KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V.

Die Anklage der Staatsanwalt­schaft Erfurt gegen den Weimarer Familienrichter Christian Dettmar. Eine kritische Analyse

Group of 13-year-old teenagers wearing a N95 Face masks is standing in front of a world map

Von Matthias Guericke, Thomas Barisic und Jürg Vollenweider

Der Weimarer Familienrichter Christian Dettmar wurde von der Staatsanwaltschaft Erfurt wegen seines Beschlusses vom 08.04.2021 (9 F 148/21) zur Maskenpflicht in zwei Schulen wegen Rechtsbeugung angeklagt. Wie schon der Beschluss hat auch das Strafverfahren von Anfang an große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Es ist eines von deutschlandweit bisher zwei Verfahren, in denen gegen einen Richter bzw. eine Richterin im Zusammenhang mit einer Entscheidung, die Corona-Maßnahmen betraf, Anklage wegen Rechtsbeugung erhoben wurde.1Auch in dem anderen Verfahren, in dem bisher nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden wurde, ist die Staatsanwaltschaft Erfurt die Anklagebehörde. Der erste Verhandlungstag vor dem Landgericht Erfurt sollte am 18.04.2023 stattfinden. Nach kurzfristiger Aufhebung dieses Termins soll der Prozess jetzt am 15.06.2023 beginnen.

In diesem Beitrag soll die Anklage der Staatsanwaltschaft Erfurt vom 17.05.2022 (542 Js 11498/21) in einer auch für Nichtjuristen verständlichen Form analysiert werden.2Der Text in den Endnoten wird teilweise nur für Juristen verständlich sein, der Haupttext soll aber einen geschlossenen Gedankengang bieten, so dass die Endnoten für das Verständnis nicht zwingend erforderlich sind und beim Lesen auch übergangen werden können. Da die Anklageschrift insgesamt 62 Seiten umfasst, von der Staatsanwaltschaft nicht nur ein einziger, sondern eine Vielzahl von Vorwürfen erhoben wird und sich außerdem schwierige Rechtsfragen stellen, ist eine solche Analyse – wenn sie der Sache gerecht werden soll – nicht in einem schwungvollen Durchgang durch den Anklagetext zu haben, sondern nur in vielen – auch für den Leser vielleicht mühsamen – Einzelschritten. Diese Schritte sind folgende: Nach einem Blick auf den Tatbestand der Rechtsbeugung (Abschnitt 1) folgen kurze Erläuterungen zum Inhalt des von Richter Dettmar erlassenen Beschlusses des Amtsgerichts Weimar vom 08.04.2021, der Gegenstand der Anklage ist (Abschnitt 2). Sodann folgt ein längerer Abschnitt über den infolge des Beschlusses in mehreren gerichtlichen Entscheidungen ausgetragenen Streit über die Frage der Zuständigkeit des Familiengerichts für das Verfahren und wie die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren und in der Anklage mit dieser Frage umgegangen ist. Ergänzt wird dies durch Erläuterungen zu dem für den Beschluss zentralen § 1666 Abs. 4 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (Abschnitt 3). Danach werden die Rahmenerzählung, in die die Staatsanwaltschaft die einzelnen Tatvorwürfe eingebettet hat (Abschnitt 4), der Vorwurf, Richter Dettmar hätte eigene Befangenheit anzeigen müssen (Abschnitt 5) und der Vorwurf, er habe rechtswidrig den Tenor des Beschlusses auf alle Schüler der beiden betroffenen Schulen erstreckt (Abschnitt 6), erörtert. Die verbleibenden Vorwürfe können eher summarisch behandelt werden (Abschnitt 7). Ein Hinweis auf das, was in der Anklage fehlt (Abschnitt 8), leitet über zum abschließenden Fazit (Abschnitt 9). 

1.  Der Tatbestand des § 339 Strafgesetzbuch (StGB)

Der Straftatbestand der Rechtsbeugung hat folgenden Wortlaut: 

Ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.

Dem Gesetzestext ist zu entnehmen, wer als Täter in Betracht kommt (Richter, aber auch andere Amtsträger, z. B. Staatsanwälte), in welchem Zusammenhang der Täter handeln muss („bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache“) und dass die Tat zugunsten oder zum Nachteil einer Partei der Rechtssache wirken muss. Was eine „Beugung des Rechts“ ist, ist dem Wortlaut des Tatbestandes aber nicht zu entnehmen und es versteht sich auch keineswegs von selbst. In der Rechtswissenschaft wird darüber intensiv gestritten, maßgeblich für die Gerichte ist aber die Auslegung des Tatbestandes durch den Bundesgerichtshof, weil dieser für Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile der Landgerichte (Revisionen) zuständig ist.3Rechtsbeugung wird (fast) immer wegen der besonderen Bedeutung des Falles im Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) beim Landgericht angeklagt. Seine Rechtsprechung zu § 339 StGB fasst der Bundesgerichtshof im Urteil vom 21.01.2021, 4 StR 83/20, selbst wie folgt zusammen:4Im zitierten Text enthaltene Klammerverweise auf andere Urteile werden hier nicht wiedergegeben. 

Als eine Beugung des Rechts im Sinne von § 339 StGB kommen nur elementare Rechtsverstöße in Betracht. Die Schwere des Unwerturteils wird dabei dadurch indiziert, dass Rechtsbeugung als Verbrechen eingeordnet ist und im Falle der Verurteilung das Richter- oder Beamtenverhältnis des Täters gemäß § 24 Nr. 1 DRiG, § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG kraft Gesetzes endet. § 339 StGB erfasst deshalb nur Rechtsbrüche, bei denen sich der Richter oder Amtsträger bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei von Recht und Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an eigenen Maßstäben ausrichtet. Eine unrichtige Rechtsanwendung oder Ermessensausübung reicht daher für die Annahme einer Rechtsbeugung selbst dann nicht aus, wenn sich die getroffene Entscheidung als unvertretbar darstellt. Insoweit enthält das Merkmal der Beugung des Rechts ein normatives Element, dem die Funktion eines wesentlichen Regulativs zukommt. Ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände zu entscheiden. Dabei kann neben dem objektiven Gewicht und Ausmaß des Rechtsverstoßes insbesondere Bedeutung erlangen, von welchen Motiven sich der Richter leiten ließ. 

Wichtig ist dabei festzuhalten, dass der Bundesgerichtshof den Tatbestand der Rechtsbeugung restriktiv auslegt. Nicht jede rechtlich unvertretbare Entscheidung erfüllt den Tatbestand, vielmehr muss es sich um einen elementaren Rechtsverstoß handeln. Auch diese nähere Eingrenzung des Tatbestandes enthält zwar noch unbestimmte Begriffe (was ist „elementar“, was „schwerwiegend“?), aber der Rechtsprechung ist damit zumindest eine Linie vorgegeben.

Rechtsbeugung kann nicht nur begangen werden, indem eine Rechtssache falsch entschieden wird, sie ist auch allein durch einen schwerwiegenden Verstoß gegen Verfahrensrecht möglich. Eine gerichtliche Entscheidung (Urteil oder Beschluss) kann also im Ergebnis richtig oder jedenfalls rechtlich vertretbar sein, der entscheidende Richter kann sich aber dennoch wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht haben. Voraussetzung ist insoweit aber, dass durch den Verfahrensverstoß zumindest die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung zum Vor- oder Nachteil einer Partei begründet wurde.5BGH, 18.08.2021, 5 StR 39/21, juris Rn. 34 = openJur Rn. 40; ständige Rechtsprechung. – Soweit Entscheidungen auch bei www.openjur.de veröffentlicht sind, wird auch die dortige Fundstelle angegeben, weil openJur anders als juris frei zugänglich ist.

Schließlich kann Rechtsbeugung nur vorsätzlich begangen werden. Ein elementarer Rechtsverstoß aufgrund von Unkenntnis oder eines Versehens (= Fahrlässigkeit), erfüllt daher niemals den Tatbestand der Rechtsbeugung. 

Für einen wegen Rechtsbeugung angeklagten Richter geht es immer um seine berufliche Existenz, da – wie vom Bundesgerichtshof im obigen Zitat dargelegt – im Falle einer Verurteilung aufgrund des vorgegebenen Strafrahmens mindestens auf Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erkennen ist und damit das Richterverhältnis (wie auch jedes Beamtenverhältnis) automatisch endet. Eine Einstellung des Verfahrens unter Auflagen ist von vornherein ausgeschlossen, da dies gemäß §§ 153, 153a Strafprozessordnung (StPO) nur bei Vergehen und nicht bei Verbrechen (= Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind; § 12 Abs. 1 StGB) rechtlich möglich ist. Freispruch oder Verurteilung zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe und damit Ende des Richteramts sind also die Alternativen.

2.  Der Beschluss des Amtsgerichts Weimar vom 08.04.2021 

Mit Beschluss vom 08. bzw. 09.04.20216Das Erlassdatum wurde von der Geschäftsstelle des Amtsgerichts nachträglich vom 08.04. auf den 09.04. abgeändert, in den juristischen Datenbanken juris und openJur ist aber unverändert der 08.04.2021 angegeben., Az. 9 F 148/21, juris und openJur, hat Familienrichter Christian Dettmar den Leitungen und Lehrern der Schulen von zwei Weimarer Kindern sowie den Vorgesetzten der Schulleitungen untersagt, für die beiden Kinder und alle weiteren an den beiden Schulen unterrichteten Schüler das Tragen von Masken, Mindestabstände und die Teilnahme an Corona-Schnelltests anzuordnen. Außerdem wurde angeordnet, dass Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten ist. Die Entscheidung wurde im Kern damit begründet, dass die genannten Maßnahmen das Wohl der betreffenden Kinder und Jugendlichen gefährden würden und die zugrundeliegenden rechtlichen Regelungen verfassungswidrig und nichtig seien. 

Die Entscheidung erfolgte im Wege einstweiliger Anordnung ohne vorherige mündliche Verhandlung in einem Verfahren gem. § 1666 BGB. Die hier relevanten Absätze 1 und 4 des mit der Überschrift „Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ versehenen § 1666 BGB lauten wie folgt:

(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.

(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.

Bei einem Verfahren gem. § 1666 BGB handelt es sich um ein sogenanntes Amtsverfahren gem. § 24 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). Das bedeutet, dass das Verfahren von Amts wegen eingeleitet wird und keines Antrags bedarf.7Zum Antragsverfahren s. § 23 FamFG. Der Familienrichter kann also von sich aus ein solches Verfahren einleiten – und ist dazu sogar verpflichtet –, wenn ihm Umstände bekannt werden, die den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung begründen. Wenngleich das Verfahren von Amts wegen eingeleitet wird, können Dritte es doch anregen (§ 24 Abs. 1 FamFG). Dies ist in der Praxis fast immer der Fall und typischerweise erfolgt eine solche Anregung durch das Jugendamt, das Kenntnis von kindeswohlgefährdenden Verhältnissen in Familien hat. Vorliegend hatte die Mutter der beiden Kinder angeregt, ein Verfahren gem. § 1666 BGB einzuleiten. 

3.  Der Streit über die Zuständigkeit des Familiengerichts

Die Einleitung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft

Kurz nach Bekanntwerden des Beschlusses wurden mehrere Strafanzeigen gegen Christian Dettmar erstattet, und die Staatsanwaltschaft Erfurt leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Rechtsbeugung (Az. 542 Js 11498/21) ein. Begründet wurde dies gegenüber der Presse und Öffentlichkeit mit einem einzigen Vorwurf: Es bestehe der Anfangsverdacht, dass Richter Dettmar nicht zuständig und daher nicht befugt gewesen sei, eine solche Anordnung zu erlassen. Anstelle des Familiengerichts wäre das Verwaltungsgericht zuständig gewesen. Auch in dem Durchsuchungsbeschluss vom 22.04.2021, auf dessen Grundlage am 26.04.2021 die Wohnung und das Dienstzimmer von Richter Dettmar von Polizei und Staatsanwaltschaft durchsucht wurden, wurde der Tatverdacht ausschließlich mit dem Vorwurf begründet, dass das Amtsgericht nicht zuständig gewesen sei, weil es sich um eine verwaltungsrechtliche Angelegenheit handele, für die nach § 40 Abs. 1 VwGO ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sei. Zur Begründung wurde weiter angeführt, dass „Dritte“ im Sinne von § 1666 Abs. 4 BGB ausschließlich private Personen seien und nicht Träger öffentlicher Gewalt. Die gesetzliche Kontrolle des Verwaltungshandelns in den Schulen obliege allein den Verwaltungsgerichten.8Der Durchsuchungsbeschluss lag den Autoren vor.

Was die Staatsanwaltschaft hier als klare Sache darstellte, nämlich dass es sich um eine „verwaltungsrechtliche Angelegenheit“ (der richtige Terminus ist nach § 40 Abs. 1 VwGO „öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art“) handelte, war allerdings alles andere als klar. In der Folge befassten sich eine ganze Reihe von Gerichten mit dieser Frage, darunter das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof. 

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Jena vom 14.05.2021

Von dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren blieb die Wirksamkeit des Beschlusses vom 08.04.2021 unberührt.9Das Thüringer Bildungsministerium hat allerdings erklärt, dass der Beschluss nur hinsichtlich der beiden Kinder, deren Mutter die Anregung gestellt hatte, umgesetzt würde, nicht hinsichtlich der anderen Kinder. Dazu sehr kritisch Lies-Benachib, Masken-Gate?, in: Betrifft Justiz 2021, S. 70-73. Dass das am Verfahren beteiligte Thüringer Bildungsministerium ihn gerne so schnell wie möglich aufgehoben gesehen hätte, liegt auf der Hand. Entscheidungen in Verfahren auf einstweilige Anordnung in Familiensachen sind aber (mit Ausnahme von Entscheidungen über freiheitsentziehende Unterbringungen und unterbringungsähnliche Maßnahmen) gemäß § 57 FamFG nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar, wenn sie – wie hier – nicht auf Grund mündlicher Verhandlung ergangen sind. Das Bildungsministerium des Freistaats Thüringen hätte daher zunächst gem. § 54 Abs. 2 FamFG Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung stellen müssen und erst gegen die aufgrund der dann durchgeführten mündlichen Verhandlung (im Fall von § 1666 BGB „Erörterung“ genannt) ergangene Entscheidung gem. § 57 S. 2 Nr. 1 FamFG Beschwerde einlegen können.10Wobei auch das nicht unumstritten ist. Einer breiten Meinung in Rechtsprechung und Literatur zufolge sind Maßnahmen nach § 1666 BGB, die nicht auf einen (teilweisen) Entzug der elterlichen Sorge gerichtet sind, nicht nach § 57 S. 2 Nr. 1 FamFG anfechtbar (vgl. Prütting/Helms-Dürbeck, FamFG, § 57 Rn. 5). Das Oberlandesgericht Jena ist allerdings in seiner Entscheidung vom 14.05.2021, auf die sogleich zu sprechen gekommen wird, davon ausgegangen, dass hier die Beschwerde nach mündlicher Erörterung eröffnet gewesen wäre (OLG Jena, 14.05.2021, 1 UF 136/21, juris Rn 33 = openJur Rn. 37). Das Ministerium stellte aber keinen Antrag auf mündliche Verhandlung, sondern legte gegen den Beschluss direkt Beschwerde mit der Begründung ein, dass das Rechtsmittel sowohl als außerordentliche (d. h. gesetzlich nicht geregelte) als auch als sofortige Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 Gerichtverfassungsgesetz (GVG) zulässig sei. 

Die Frage der außerordentlichen Beschwerde kann hier unerörtert bleiben, weil diese vom Oberlandesgericht Jena in seiner Entscheidung vom 14.05.2021 (1 UF 136/21, juris und openJur) als unzulässig zurückgewiesen wurde mit der Begründung, der Beschwerdeführer hätte Antrag auf mündliche Erörterung stellen können und dann eine Beschwerdemöglichkeit gehabt. Die Zulässigkeit der Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG hat das Oberlandesgericht aber bejaht, und an dieser Stelle wird es etwas kompliziert: 

Am Abend des 08.04.2021 hatte das Ministerium einen Schriftsatz an das Amtsgericht Weimar gefaxt, in dem es u. a. die Zulässigkeit des Rechtsweges gerügt hatte, weil nicht die ordentliche Gerichtsbarkeit in Gestalt des Familiengerichts zuständig sei, sondern die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dieser Schriftsatz war allerdings verspätet. Richter Dettmar, der mit der Einleitung des Verfahrens das Bildungsministerium beteiligt und diesem auch einen umfangreichen Fragenkatalog übersandt hatte, hatte eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme gesetzt, die bereits am 06.04.2021 abgelaufen war.11Diese und weitere Einzelheiten können dem Beschluss des OLG Jena vom 14.05.2021, 1 UF 136/21, entnommen werden.

Wenn eine Partei den Rechtsweg rügt, hat das Gericht vorab, d. h. vor einer Entscheidung in der Sache, über die Zulässigkeit des Rechtswegs zu entscheiden (§ 17a Abs. 2 S. 2 GVG). Gegen diese Entscheidung kann dann gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG sofortige Beschwerde eingelegt werden. Eine solche Vorabentscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs hat Richter Dettmar nicht getroffen. Laut Oberlandesgericht hätte er das aber tun müssen, weil ihm der Schriftsatz des Ministeriums vom 08.04.2022 noch vor dem Erlass des Beschlusses nach § 1666 BGB bekannt gewesen sei.12Dass ihm der Schriftsatz vor Übergabe des Beschlusses an die Geschäftsstelle als Zeitpunkt des Beschlusserlasses gem. § 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG bekannt war, ist allerdings nicht mehr als eine Mutmaßung des Oberlandesgerichts Jena, wie sich aus den Ausführungen des OLGs selbst ergibt (a. a. O., juris Rn. 36-38; openJur Rn. 40-43). Auch die Staatsanwaltschaft beschäftigt sich im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen mit dieser Frage und kommt zu dem Ergebnis, dass dies nicht nachweisbar sei. Nach der – nicht näher begründeten – Auffassung des OLG war die Kenntnis von dem Schriftsatz aber die notwendige Bedingung für die Zulässigkeit der Beschwerde. Somit hing die Entscheidung des OLG vollständig an einer Mutmaßung! – Ob die rechtzeitige Kenntniserlangung entscheidend war, wie das OLG voraussetzt ist allerdings rechtlich wohl nicht unumstritten: Sofern von einem Gericht keine Frist gesetzt wurde, sind unstreitig alle bis zum Erlass der Entscheidung, d. h. der Übergabe an die Geschäftsstelle, eingehenden Schriftsätze zu berücksichtigen, auch wenn die Entscheidung bereits von allen beteiligten Richtern unterschrieben war und die betreffenden Schriftsätze nicht vorgelegt und damit den Richtern unbekannt waren, vgl. BayObLG NJW-RR 1999, 1685; OLG Köln ZMR 2001, 571; BGH NJW-RR 2015, 1090. Wenn aber der fragliche Schriftsatz den entscheidenden Richtern unbekannt war und – wie hier – eine Frist gesetzt und versäumt wurde, wird dies wohl anders zu beurteilen sein, da dann keine Verletzung des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG vorliegen dürfte (ebenso offensichtlich BGH NJW-RR 2015, 1090 und das OLG Jena in dieser Sache; a. A. Prütting/Helms-Abramenko, FamFG § 65 Rn. 9). Dass entgegen der Verpflichtung des Gerichts keine Vorabentscheidung ergangen sei, könne, so das Oberlandesgericht weiter, nicht zum Verlust der Beschwerdemöglichkeit führen, weshalb hier die sofortige Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG für das Ministerium eröffnet sei. Die Beschwerde sei auch begründet, denn es handele sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit gem. § 40 VwGO,13OLG Jena, 14.05.2021, 1 UF 136/21, juris Rn. 45; openJur Rn. 49. – § 40 Abs. 1 VwGO lautet: „Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts können einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden.“ weil die Anregung der Kindesmutter das Ziel verfolge, schulinterne Maßnahmen außer Kraft zu setzen und die Rechtmäßigkeit der diesen Anordnungen zugrundeliegenden Vorschriften zu überprüfen. Eine solche Regelungskompetenz sei dem Familiengericht durch § 1666 BGB aber nicht eröffnet.14OLG Jena, a. a. O., juris, Rn. 46; openJur Rn. 50. Dritte im Sinne des § 1666 Abs. 4 BGB seien nicht Behörden, Regierungen und sonstige Träger staatlicher Gewalt.15OLG Jena, a. a. O., juris, Rn. 47; openJur Rn. 51. Allerdings komme eine Verweisung des Rechtsstreits an das Verwaltungsgericht nicht in Betracht, weil ein von Amts wegen eingeleitetes Verfahren nicht dem Verwaltungsgericht aufgedrängt werden könne. Das Verfahren sei vielmehr einzustellen, was das Oberlandesgericht dann in seinem Beschluss auch tat.

Laut Oberlandesgericht ist somit zwar der Verwaltungsrechtsweg gegeben, eine Verweisung des Verfahrens an das Verwaltungsgericht aber nicht möglich. Das Verwaltungsgericht ist damit zuständig und zugleich unzuständig, jedenfalls nicht so zuständig, dass es sich damit befassen müsste. Dieser Widerspruch ist kein scheinbarer. Aufgelöst wurde er schließlich von den Verwaltungsgerichten, wie sogleich gezeigt werden wird. Für den Erfolg der Beschwerde war es allerdings notwendige Bedingung, dass das Oberlandesgericht das Vorliegen einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit nach § 40 VwGO bejahte. Andernfalls hätte es die Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG zurückweisen müssen und der Beschluss des Amtsgerichts wäre weiterhin wirksam geblieben.16Entscheidend war insoweit, dass – weil ausschließlich die Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG zulässig war – das OLG nur über die Frage des Rechtsweges zu entscheiden hatte und nicht über die inhaltliche Richtigkeit des Beschlusses vom 08.04.2021.

Bemerkenswerterweise hat das Oberlandesgericht die – nur bei Zulassung statthafte – Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof mit der Begründung zugelassen, die Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung (§ 17a Abs. 4 S. 5 GVG). Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Sache auch aus Sicht des Oberlandesgerichts keineswegs eindeutig klar war, denn dann wäre es unnötig, dass der Bundesgerichtshof sich noch dazu äußert. Bereits an dieser Stelle hätte die Staatsanwaltschaft ihren Rechtsbeugungsvorwurf mit dem Argument, nicht das Amtsgericht, sondern das Verwaltungsgericht sei zuständig gewesen, fallen lassen müssen. Denn wenn aus Sicht des Oberlandesgerichts eine Klärung der Rechtsfrage durch den Bundesgerichtshof wünschenswert erscheint, ist die entgegenstehende Auffassung jedenfalls nicht schlechthin unvertretbar und kann daher nicht Grundlage für den Vorwurf einer Rechtsbeugung sein. 

Verwaltungsgericht Münster und Bundesverwaltungs­gericht widersprechen dem Oberlandesgericht

Inzwischen waren auch bei anderen Amtsgerichten Anregungen auf Einleitung eines Verfahrens gem. § 1666 BGB wegen der Maskenpflicht in Schulen eingegangen, und manche Gerichte wollten sich dieser Sachen mit einer Verweisung der Verfahren an das Verwaltungsgericht entledigen. In zwei solcher Fälle entschied das Verwaltungsgericht Münster (26.05.2021, Az. 5 L 339/21, juris und openJur, 31.05.2021, Az. 5 L 344/21, juris und openJur), dass keine Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts gegeben sei. Denn – so die der Argumentation des Oberlandesgerichts Jena diametral entgegengesetzte Begründung – den Anträgen der Eltern sei ausdrücklich zu entnehmen, dass ihr Rechtsschutzinteresse speziell auf ein familiengerichtliches Einschreiten gerichtet sei. Zwar nähmen sie auch Bezug auf in der Corona-Schutzverordnung geregelte Maßnahmen, insoweit beschränke sich das Begehren der Antragsteller jedoch auf eine inzidente Rechtmäßigkeitsprüfung. Den Rechtsstreitigkeiten lägen damit keine öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zugrunde, sondern von den Familiengerichten von Amts wegen zu betreibende Kindschaftssachen. Das Verwaltungsgericht Münster legte die beiden Sachen dem Bundesverwaltungsgericht vor, um die Zuständigkeitsfrage zu klären, und das Bundesverwaltungsgericht bestätigte die Auffassung des Verwaltungsgerichts Münster mit derselben Begründung (BVerwG, 16.06.2021, 6 AV 1/21, 6 AV 2/21, juris und openJur; ebenso BVerwG 21.06.2021, 6 AV 4/21, juris und openJur). Die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts zu diesen Entscheidungen vom 25.06.2021 trug die Überschrift „Für die Entscheidung über Anordnungen gegenüber einer Schule gemäß § 1666 Abs. 1 und 4 BGB wegen dort geltender Corona-Schutzmaßnahmen verbleibt es bei der Zuständigkeit der Amtsgerichte/Familiengerichte.“17Um Missverständnisse zu vermeiden: Auch das Bundesverwaltungsgericht sagt nicht, dass § 1666 Abs. 4 BGB dazu ermächtige, Anordnungen gegenüber Behörden zu treffen, es setzt sich mit dieser Frage gar nicht näher auseinander. Es trennt aber diese Frage – anders als das OLG Jena – klar von der Frage nach dem Rechtsweg.

Der Widerspruch in der Entscheidung des Oberlandesgerichts hatte sich damit in Luft aufgelöst. Es handelt sich nicht um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit gemäß § 40 VwGO, schon allein deshalb, weil es keine „Streitigkeit“ i. S. v. § 40 VwGO gibt, zu der immer zwei Parteien gehören,18Schoch/Schneider-Ehlers/Schneider Verwaltungsrecht, VwGO § 40 Rn. 93. hier aber die Kindesmutter nur eine Anregung gestellt hat, aufgrund derer das Gericht ein Verfahren gem. § 1666 BGB einleiten konnte oder nicht. Dass ein Amtsverfahren gem. § 1666 BGB nicht an das Verwaltungsgericht abgegeben werden kann, versteht sich von selbst.19Deshalb setzt nach allgemeiner Auffassung die (entsprechende) Anwendung der §§ 17-17b GVG gem. § 17a Abs. 6 GVG im Verhältnis der freiwilligen zur streitigen ordentlichen Gerichtsbarkeit wie auch zu den anderen Rechtswegen (z. B. Verwaltungsrechtsweg!) voraus, dass eine Verweisung überhaupt möglich ist, was nur bei den Streitsachen und Antragsverfahren, aber nicht bei Amtsverfahren der Fall ist (Kissel/Mayer, GVG § 17 Rn. 62; so auch schon die Gesetzesbegründung: BT-Drs 16/6308, 318). Das OLG Jena (a. a. O., juris Rn. 40; openJur Rn. 44) widerspricht dem mit einer tautologischen Begründung und zwei Fundstellen (Zöller-Lückemann ZPO, § 17a GVG Rn. 1 und Kissel/Mayer, GVG § 17 Rn. 8, 17), die diese Auffassung gar nicht stützen. Nicht nur kennt die Verwaltungsgerichtsordnung keine Amtsverfahren, ein Verfahren nach § 1666 BGB ist und bleibt ein Verfahren nach § 1666 BGB, für das ausschließlich die Familiengerichte zuständig sind. Welche Anordnungskompetenzen § 1666 BGB vermittelt und ob das Familiengericht auch Anordnungen gegenüber Trägern der öffentlichen Gewalt treffen darf, ist eine andere Frage, die nichts mit dem Rechtsweg zu tun hat. Ist eine Anordnung in einem solchen Verfahren rechtswidrig, weil sie vom Tatbestand des § 1666 BGB nicht gedeckt ist, wird damit aus dem Verfahren keine öffentlich-rechtliche Streitigkeit, es ist nur die Entscheidung unrichtig. Man muss sagen: Im Grunde ist das, was das Verwaltungsgericht Münster und das Bundesverwaltungsgericht dargelegt haben, eine juristische Selbstverständlichkeit.

Wer nun dachte, die Staatsanwaltschaft würde nach den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Münster und des Bundesverwaltungsgerichts den Vorwurf der Rechtsbeugung fallen lassen und das Ermittlungsverfahren einstellen, sah sich allerdings getäuscht. Stattdessen weitete die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe aus, wie sich aus dem Durchsuchungsbeschluss für die Hausdurchsuchung, die am 29.06.2021 bei Richter Dettmar (zum zweiten Mal) und bei weiteren Personen stattfand, ergab. 

Der Bundesgerichtshof lässt den Widerspruch der Verwaltungsgerichte verschwinden

Was jetzt noch ausstand, war die Entscheidung des Bundesgerichtshofs über die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Jena vom 14.05.2021. Sie erging am 03.11.2021 (XII ZB 289/21), nachdem der Bundesgerichtshof schon am 06.10.2021 in einem ähnlichen Fall entschieden hatte (XII ARZ 35/21). Die Entscheidung war verblüffend: Der BGH drehte das Rad, an dem das Bundesverwaltungsgericht gedreht hatte, zurück und bestätigte die Entscheidung des Oberlandesgerichts in vollem Umfang. Das Oberlandesgericht habe die Anregungsschreiben der Eltern „in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dahin ausgelegt, dass gegen die Schule gerichtete Unterlassungsverlangen durchgesetzt werden sollen. Über derartige Unterlassungsansprüche hätten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zu entscheiden.“20BGH, 03.11.2021, XII ZB 289/21, juris Rn. 14; openJur Rn. 14. Dass das Bundesverwaltungsgericht genau entgegengesetzt entschieden hatte, wurde vom Bundesgerichtshof dabei unterschlagen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.06.2021 (6 AV 4/21) wird sogar wiederholt als Beleg für eigene Aussagen zitiert, dass das Bundesverwaltungsgericht aber die Auffassung vertreten hat, dass keine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliege, wird verschwiegen.21Wie der BGH die abweichende Auffassung des BVerwG souverän unter den Tisch fallen lässt, ist geradezu phänomenal. Dabei muss man sich folgendes noch einmal klarmachen: Auch wenn BGH und BVerwG im Ergebnis beide der Auffassung sind, dass § 1666 Abs. 4 BGB nicht zu Anordnungen gegenüber Behörden ermächtigt, ist der Unterschied in Bezug auf die Frage des § 40 VwGO entscheidend: Nach dem BVerwG ist der Verwaltungsrechtsweg nicht gegeben, auf der Grundlage dieser Auffassung wäre die Beschwerde des Ministeriums gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG unbegründet gewesen. Der BGH hätte die Entscheidung des OLG Jena aufheben müssen und der Beschluss des Amtsgerichts Weimar wäre wieder in Kraft gewesen. – Hat der BGH daher im Corona-Notstand gehandelt, als er die Argumentation des BVerwG ignorierte? 

Die Rezeption des Streits durch die Staatsanwaltschaft 

Was hat die Staatsanwaltschaft Erfurt aus diesen Entscheidungen, die ihr nicht zuletzt deshalb bekannt waren, weil in Schriftsätzen der Verteidigung darauf hingewiesen wurde, gemacht? Sie blieb einfach dabei, dass das Verwaltungsgericht zuständig gewesen sei, weil es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit handele. Richter Dettmar habe das als langjähriger Familienrichter auch gewusst. Dafür zitiert die Staatsanwaltschaft den Beschluss des BGH vom 06.10.2021, XII ARZ 35/21, und einen Absatz später als Beleg für diese Auffassung sogar fast wörtlich Sätze aus dem – dieser Auffassung widersprechenden! – Beschluss des BVerwG vom 16.06.2021.22BVerwG, 16.06.2021, 6 AV 1/21, juris Rn. 7. Während die Sätze beim BVerwG aber im Irrealis stehen, werden sie in der Anklage in den Indikativ transformiert.23Damit ist gewissermaßen die nächsthöhere Stufe im kreativen Umgang mit entgegenstehenden Auffassungen erreicht: Sie nicht nur zu ignorieren, wie es der BGH getan hat, sondern zu behaupten, dass der andere dieselbe Auffassung wie man selbst vertreten würde. Dass das ein Versehen sein soll, kann man sich kaum vorstellen. Die Staatsanwaltschaft wollte offenbar ihren Ausgangsvorwurf nicht korrigieren, und deshalb hat sie ihn nicht korrigiert. 

Nachtrag: Die inhaltliche Reichweite des § 1666 Abs. 4 BGB

An dieser Stelle ist noch etwas nachzutragen. Auch wenn man davon ausgeht, dass der Vorwurf, Richter Dettmar habe zu Unrecht seine Zuständigkeit bejaht, weil das Verwaltungsgericht in der Sache zuständig gewesen wäre, ins Leere läuft, könnte ein Rechtsfehler darin bestehen, dass er zu Unrecht die Anordnungen gegenüber Trägern von hoheitlicher Gewalt auf § 1666 Abs. 4 BGB gestützt hätte, während die Norm tatsächlich dem Familienrichter eine solche Kompetenz nicht vermittelt.24Zu dieser Frage bereits: Netzwerk KRiStA: Corona-Maßnahmen vor dem Familiengericht – eine ungewöhnliche Entwicklung. Wie gezeigt hat diese Frage mit der Frage nach dem Rechtsweg nichts zu tun, auch wenn beide Fragen vom Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof vermischt wurden. Entschieden werden muss die Frage an dieser Stelle auch nicht, denn ein Rechtsbeugungsvorwurf käme allenfalls dann in Betracht, wenn – wie die Staatsanwaltschaft behauptet – für jeden mit der Rechtsmaterie Befassten offensichtlich und unbestreitbar wäre, dass Behörden und andere Träger hoheitlicher Gewalt nicht Dritte im Sinne des § 1666 Abs. 4 BGB sind und deshalb Anordnungen ihnen gegenüber nicht auf diese Norm gestützt werden können. Dem war jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses vom 08.04.2021 nicht so: Zunächst ist dem Wortlaut des § 1666 Abs. 4 BGB insoweit nichts zu entnehmen. Der Auffassung, Dritte i. S. v. § 1666 Abs. 4 BGB könnten auch Lehrer und Schulleiter von öffentlichen Schulen sein, stand auch kein allseits bekannter Konsens in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft entgegen. Vor dem Beschluss vom 08.04.2021 war nicht einem einzigen Kommentar zum BGB explizit zu entnehmen, dass Träger von Hoheitsgewalt nicht Dritte i. S. v. § 1666 BGB sein könnten.25Vgl. Johannsen/Henrich/Althammer-Jokisch, Familienrecht, 7. Aufl., 2020, § 1666 Rn. 124: „Dritter iSd Vorschrift ist jede nicht sorgeberechtigte Person.“ Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666 Rn. 237: „Dritter iS der Vorschrift ist jeder Nichtelternteil“. Als Beispiel für einen Dritten i. S. v. Absatz 4, gegenüber dem gerichtliche Anordnungen zulässig sind, wird in den Kommentaren häufig auch eine psychiatrische Klinik, die die gebotene Aufnahme eines Kindes grundlos verweigert hat, genannt. Lediglich die Frage, ob das Gericht Anordnungen gem. § 1666 Abs. 4 BGB auch gegenüber dem Jugendamt treffen kann, wurde in Rechtsprechung und Literatur diskutiert und verneint. Dies lässt sich aber wegen des besonderen Verhältnisses von Gericht und Jugendamt im familiengerichtlichen Verfahren nicht ohne weiteres auf andere Träger hoheitlicher Gewalt übertragen. Auch aus der Sache ergibt sich nicht ohne weiteres, warum eine Anordnungskompetenz gegeben sein soll, wenn etwa – theoretischer Fall – ein Arzt das Kindeswohl gefährdet, aber ihre Grenze finden soll, wenn der Handelnde Lehrer einer öffentlichen Schule ist.26Die Frage, ob Lehrkräfte (und nicht nur Schulleiter) überhaupt Träger von hoheitlicher Gewalt sind, ist dabei keineswegs unstrittig und spielte bei der in der Öffentlichkeit in den zurückliegenden Jahren diskutierten Frage eines Streikrechts für Lehrer eine Rolle. Im vorliegenden Fall wurde das aber bei allen zitierten Entscheidungen unhinterfragt vorausgesetzt. Wenn dies so offensichtlich wäre, wie die Staatsanwaltschaft meint, müsste auch der 7. Strafkammer des Landgerichts Erfurt der Vorwurf rechtlicher Ahnungslosigkeit gemacht werden, die noch in einem Beschluss vom 09.06.2021 (7 Qs 131/21) die Frage, ob § 1666 Abs. 4 BGB das Familiengericht dazu berechtigt, Anordnungen gegenüber Behörden zu treffen, dahinstehen ließ, weil es sich – so die Begründung der Kammer – um eine Rechtsfrage handele, die nicht ohne Weiteres beantwortet werden könne, sondern einer genaueren juristischen Prüfung bedürfe.

Kurz: Die Auffassung, dass Träger hoheitlicher Gewalt Dritte im Sinne von § 1666 Abs. 4 BGB sein können, war nicht schlechthin unvertretbar, so dass daran kein Vorwurf eines elementaren Rechtsverstoßes geknüpft werden kann.27Gegen eine Kompetenz für die hier getroffenen Anordnungen im konkreten Fall spricht allerdings etwas anderes: Anders als etwa in Bayern war die Maskenpflicht in der Schule in Thüringen nicht durch Rechtsverordnung, sondern durch eine Allgemeinverfügung, d. h. einen Verwaltungsakt angeordnet. Während Rechtsverordnungen, die wegen eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht (Gesetze oder die Verfassung) rechtswidrig sind, per se nichtig und damit unwirksam sind, sind rechtswidrige Verwaltungsakte nur in Ausnahmefällen, die in § 44 VwVfG geregelt sind, nichtig, im übrigen aber bis zu ihrer Aufhebung durch die erlassende Behörde oder das Verwaltungsgericht wirksam. Da die betreffenden Regelungen der Allgemeinverfügung nicht nichtig gem. § 44 VfwVfG sind, lief die Anordnung, die Maskenpflicht nicht durchzusetzen, darauf hinaus, dass die Lehrer geltendes Recht nicht befolgen sollten, was nicht rechtmäßig sein kann. Dass der Umstand, dass die Maskenpflicht in einer Allgemeinverfügung angeordnet war, zu diesen abweichenden rechtlichen Konsequenzen führt, haben aber offensichtlich nicht nur Richter Dettmar, sondern auch das OLG Jena und die Staatsanwaltschaft übersehen. Thematisiert wurde es, soweit ersichtlich, nirgends.

4.  Die Rahmenerzählung vom Missbrauch des familiengerichtli­chen Verfahrens durch Richter Dettmar für andere Zwecke

Außer dem Vorwurf, er habe sich die Zuständigkeit in einer Sache angemaßt, für die die Verwaltungsgerichte zuständig seien, legt die Staatsanwaltschaft Richter Dettmar (je nach Zählweise) mindestens acht weitere (angebliche) Rechtsfehler zur Last. Sie hat buchstäblich jeden Stein in dem Verfahren umgedreht, um zu sehen, ob sich darunter nicht zumindest ein kleiner Rechtsfehler entdecken lässt. Ob jeder dieser (angeblichen oder tatsächlichen) Rechtsfehler für sich den Tatbestand der Rechtsbeugung ausfüllen soll oder ob die Staatsanwaltschaft die Vorstellung hat, dass der Tatbestand der Rechtsbeugung auch kumulativ erfüllt werden könnte nach dem Prinzip: Aus vielen kleinen Fehlern wird in der Summe ein elementarer Rechtsverstoß, darüber wird in der Anklage keine Rechenschaft abgelegt. 

Tatsächlich ist eine solche „kumulative Tatbestandserfüllung“ nicht möglich. Einzelne Rechtsverletzungen können nicht aufsummiert werden, nur weil sie in einem Verfahren begangen wurden, denn die Frage, ob ein „elementarer Rechtsverstoß“ vorliegt, kann immer nur an einer konkret verletzten Rechtsnorm geprüft werden. Ein „Zusammenwirken“ verschiedener Rechtsverletzungen ist nur insofern möglich, als Rechtsverletzungen, die im Zusammenhang mit einem bestimmten Rechtsverstoß stehen, das Gewicht dieses Rechtsverstoßes (ggf. bis zur Schwelle des „elementaren Rechtsverstoßes“) erhöhen können.28So der BGH, 21.01.2021, 4 StR 83/20, juris Rn. 33 f.

Dass die Staatsanwaltschaft die Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Vorwürfe untereinander und zum Tatbestand der Rechtsbeugung nicht beantwortet, wird in der Anklage dadurch verdeckt, dass die einzelnen Vorwürfe in eine Rahmenerzählung eingebettet werden. Diese lautet zusammengefasst so: Richter Dettmar sei es zu keinem Zeitpunkt um das Wohl der beiden Kinder gegangen, er habe das Verfahren allein aus persönlichen Motiven geführt, um seine persönliche Meinung zu den Corona-Maßnahmen durch eine Entscheidung mit Breitenwirkung in die Öffentlichkeit zu tragen. Das Verfahren gem. § 1666 BGB habe nur als „Deckmantel“ für die Verfolgung dieses (politischen) Ziels gedient. Um dieses Ziel zu erreichen, habe er bei dem Verfahren elementare Verfahrensvorschriften verletzt und damit das Recht gebeugt.

Diese Erzählung ist allerdings erst einmal nur eine Behauptung, die vor allem etwas über die nicht hinterfragten Annahmen der Staatsanwaltschaft sagt, denn dass es Richter Dettmar gar nicht um die Sache selbst und die beiden Kinder gegangen sei, kann von ihr nicht belegt werden. Die Staatsanwaltschaft kann sich offensichtlich nicht vorstellen, dass ein Richter besorgt darüber war, wie staatlicherseits mit Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise umgegangen wurde und sich deshalb fragte, ob ihm als Familienrichter nicht eine Verantwortung (und rechtliche Möglichkeit) zukomme, für Kinder und Jugendliche tätig zu werden. Weil Kritik an den Corona-Maßnahmen von ihr offenbar als prinzipiell unangemessen (für einen Richter) betrachtet wird, muss Richter Dettmar von unlauteren Motiven getrieben gewesen sein. Schon der Gedanke, dass er – die Sache von seinem Standpunkt aus betrachtet – Gutes gewollt haben könnte, nämlich Kindern und Jugendlichen zu helfen, die unter den Corona-Maßnahmen zu leiden hatten, ist daher nicht möglich. Dass die Behauptung, er habe die Maskenpflicht abgelehnt und diese Position in die Öffentlichkeit tragen wollen, das Wohl der Kinder, die der Maskenpflicht unterworfen waren, sei ihm aber gleichgültig gewesen, einen logischen Widerspruch enthält, übersieht die Staatsanwaltschaft dabei. Hätte sie versucht, ihre Voreingenommenheit abzulegen, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass genau umgekehrt ein Schuh daraus wird: Gerade weil es Richter Dettmar um das konkrete Wohl der Kinder ging, konnte er nicht darüber hinwegsehen, dass durch die Corona-Maßnahmen in der Schule – jedenfalls nach seiner Überzeugung – nicht nur das Wohl der beiden Kinder gefährdet war, sondern genauso das Wohl vieler anderer Schüler. Insofern ist das Bestreben, den Beschluss einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, ohne weiteres verständlich. Der Wunsch nach der Publizität von eigenen Entscheidungen ist auch grundsätzlich nicht illegitim. Tagtäglich geben Gerichte Pressemitteilungen über ihre Entscheidungen heraus und es werden Gerichtsentscheidungen zur Veröffentlichung in juristischen Portalen und Zeitschriften eingereicht, das alles, um die Entscheidungen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. 

5.  Der Vorwurf der Nichtanzeige eigener Befangenheit 

Auch wenn sie zur Korrektur ihrer ganz am Anfang bezogenen Position nicht in der Lage oder nicht willens war, spricht doch einiges dafür, dass der Staatsanwaltschaft bewusst war, dass sich der Rechtsbeugungsvorwurf mit dem Argument, Richter Dettmar habe ein in der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte liegendes Verfahren an sich gezogen, nicht mehr begründen lässt. Zum Hauptvorwurf der Anklage ist deshalb ein anderer aufgestiegen: Allein im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen wird auf 23 Seiten die Entstehungsgeschichte des Beschlusses geschildert. Es wird berichtet, dass von verschiedenen Personen gezielt nach einer Familie gesucht worden sei, die eine Anregung für ein Verfahren nach § 1666 BGB bei Gericht stellen würde. Bei der Formulierung der Anregung sei der Kindesmutter von anderen Personen, jedenfalls indirekt auch von Richter Dettmar, Hilfestellung geleistet worden und von Mitgliedern des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte, dessen Gründungsgeschichte auch ausführlich referiert wird, sei ein Konzept für ein entsprechendes Verfahren erarbeitet worden. Richter Dettmar habe mit Prof. Ines Kappstein, Prof. Ulrike Kämmerer und Prof. Christof Kuhbandner außerdem bewusst coronamaßnahmenkritische Wissenschaftler als Gutachter bestellt, die zudem alle Mitglieder des Vereins Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie e. V. (MWGFD) sind. Das und noch mehr wird minutiös und detailreich ausgebreitet,29Ob sich das in allen Einzelheiten genauso zugetragen hat, wie von der Staatsanwaltschaft dargestellt, kann hier dahingestellt bleiben. als gelte es, die Bildung einer kriminellen Verschwörung aufzudecken. 

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ist es offensichtlich der große Skandal an dem ganzen familiengerichtlichen Verfahren, dass Richter Dettmar es initiiert hat. Nun ist es allerdings so, dass es gerade das Wesen eines amtswegigen Verfahrens wie des Verfahrens gem. § 1666 BGB ausmacht, dass es vom Gericht „initiiert“ wird, dem Gericht initiatives Handeln daher nicht vorgeworfen werden kann, sondern sogar von ihm erwartet wird.30S. o. Abschnitt 2. Das weiß auch die Staatsanwaltschaft, wie verschiedentlich in der Anklage deutlich wird. Man könnte daher denken, dass die gesamte, sehr aufwändige und fraglos den Hauptteil der Ermittlungsarbeit ausmachende Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Beschlusses in Bezug auf den Vorwurf der Rechtsbeugung im Nichts enden würde. Dies ist aber nicht der Fall. Da das Initiieren des Verfahrens durch den Richter nicht rechtswidrig ist, greift die Staatsanwaltschaft zu einer Art argumentativem Trick: Die (nicht rechtswidrige!) Vorbereitung des Verfahrens durch Richter Dettmar wird als „Vorbefassung“ deklariert, die zur Befangenheit führe. Diese Befangenheit hätte Richter Dettmar gemäß § 6 FamFG, § 48 Zivilprozessordnung (ZPO) anzeigen müssen. Dass er dies nicht getan habe, stelle eine Rechtsverletzung dar, die den Vorwurf der Rechtsbeugung begründen würde.31Soweit ersichtlich, gibt es einen einzigen veröffentlichten Fall einer Rechtsbeugung durch einen Richter wegen Unterlassens einer Selbstablehnung (LG Freiburg, 03.03.2009, 2 KLs 210 Js 4263/08, BeckRS 2009, 29798; BGH, 13.08.2009, 1 StR 366/09, juris). Hier hatte ein Richter als Freundschaftsdienst für einen Bekannten in einem Zivilverfahren mehrere Schriftsätze, einen Befangenheitsantrag gegen den für das Zivilverfahren zuständigen Richter und nach Ablehnung desselben auch die Beschwerdeschrift dagegen verfasst. Als die Beschwerde in seinem Dezernat beim Landgericht landete (was nach der Geschäftsverteilung nicht vorherzusehen war), zeigte er seine vorangegangene (anonyme) Tätigkeit nicht an, sondern entschied in der Sache und gab der Beschwerde statt. Der „Trick“ besteht hier darin, dass – obwohl ein Richter, der ein Verfahren initiieren darf, dieses selbstverständlich auch vorbereiten darf – die Vorbereitung von dem eigentlichen Verfahren willkürlich abgetrennt und – ohne jede Begründung! – mit dem Begriff „Vorbefassung“ bezeichnet wird, der im Zusammenhang mit der sog. Ausschließung und Ablehnung von Richtern ein Terminus technicus ist und Sachverhalte bezeichnet, die zum Ausschluss des Richters in dem davon betroffenen Verfahren führen. 

Dies bedarf näherer Erläuterung und dazu muss etwas weiter ausgeholt werden: Es gibt Fälle, in denen Richter kraft Gesetzes, d. h. auch ohne dass eine Partei ein Ablehnungsgesuch (das ist die Bezeichnung im Gesetz für einen Befangenheitsantrag) anbringt, von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen sind. Diese sind für den Bereich des Zivilrechts in § 41 ZPO geregelt, der über § 6 FamFG auch im Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit anwendbar ist. Beispielsweise darf ein Richter nicht in einer Sache seines Ehepartners (§ 41 Nr. 2 ZPO) oder einer Person, mit der er in gerader Linie verwandt oder verschwägert oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder zum bis zweiten Grad verschwägert ist (§ 41 Nr. 3 ZPO), als Richter amtieren. Auch Fälle der sog. Vorbefassung, die in § 48 Nrn. 4-8 ZPO geregelt sind, führen zum Ausschluss. So ist ein Richter etwa kraft Gesetzes ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache früher bereits als Prozessbevollmächtigter einer Partei tätig war (§ 41 Nr. 4 ZPO). Neben dem Ausschluss kraft Gesetzes gibt es außerdem die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit, die dann möglich ist, „wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen“ (§ 42 ZPO). In diesen Fällen kann eine Partei ein Ablehnungsgesuch stellen, über das dann ein anderer Richter bzw. eine andere Kammer entscheidet. Und schließlich gibt es noch die sog. Selbstablehnung (§ 48 ZPO): Wenn es Umstände gibt, die die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen könnten, muss der Richter dies von sich aus anzeigen. Auch in diesem Fall hat dann ein anderer nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständiger Richter bzw. die zuständige Kammer zu entscheiden, ob tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit besteht, was bejahendenfalls zum Ausschluss des Richters von diesem Verfahren führt. 

Vorliegend ist keiner der Fälle der Vorbefassung nach § 41 Nrn. 4-8 ZPO einschlägig, das wird auch von der Staatsanwaltschaft nicht behauptet. Eine Vorbefassung, die nicht zu einem Ausschluss des Richters gemäß § 41 Nrn. 4-8 ZPO führt, ist aber nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Regel nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.32BGH, 12.04.2016, VI ZR 549/14, juris Rn. 8; openJur Rn. 11. Die Staatsanwaltschaft müsste also zum einen begründen, weshalb die Vorbereitung des Verfahrens nicht als Teil des gesamten Verfahrens, das vom Familienrichter initiiert werden durfte, zu betrachten ist, sondern als „Vorbefassung“ deklariert werden muss und weshalb diese Art der Vorbefassung zur Befangenheit führen soll. Das tut sie aber nicht, sie wirft einfach das Wort „Vorbefassung“ in den Raum und das Wort „Befangenheit“ hinterher, und damit soll feststehen, dass Richter Dettmar wegen der Vorbereitung des Verfahrens sich selbst gem. § 6 FamFG, § 48 ZPO hätte ablehnen müssen. 

Da offenbar aber auch der Staatsanwaltschaft (mehr oder weniger) bewusst ist, dass sie Befangenheit damit nur behauptet, aber noch nicht begründet hat, schiebt sie zur Begründung hinterher, dass sich die Befangenheit von Richter Dettmar auch daraus ergebe, dass er dem Verfahrensgegenstand nicht neutral und objektiv gegenübergestanden habe. Dies ist ein anderes Argument als Vorbefassung und es ist grundsätzlich richtig, dass fehlende Objektivität in der Sache die Besorgnis der Befangenheit begründen kann. 

Allerdings will die Staatsanwaltschaft dann doch wieder fehlende Neutralität und Objektivität im Sinne einer Befangenheit schon allein deshalb als gegeben ansehen, weil Richter Dettmar das Verfahren vorbereitet habe. An dieser Stelle dreht sich die Sache im Kreis. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, dass er bei Einleitung des Verfahrens nicht mehr neutral gewesen sei, aber das ist in Verfahren nach § 1666 BGB immer der Fall: Erst wenn der Richter einen hinreichenden Verdacht einer Kindeswohlgefährdung bejaht hat, er also gerade nicht mehr neutral ist, sondern sich bereits eine (mindestens vorläufige) Meinung in der Sache gebildet hat, sind die Voraussetzungen für die Einleitung eines solchen Verfahrens überhaupt gegeben. Nun lassen sich die diesbezüglichen Ausführungen in der Anklage aber auch dahingehend verstehen, dass Richter Dettmar vorgeworfen wird, er habe nicht nur eine „vorläufige“ Meinung gehabt, sondern sie sei bereits „verfestigt“ gewesen, etwa seine Meinung zur Wirksamkeit einer Maskenpflicht. Auch das geht aber an der Sache vorbei. Von einem Familienrichter wird auch nicht gefordert, dass er bei Einleitung des Verfahrens nach § 1666 BGB zumindest noch „etwas neutral“ im Hinblick auf die Frage der Kindeswohlgefährdung sein müsse. Wenn etwa eine Anordnung nach § 1666 BGB aufgrund einer Anregung des Jugendamtes im Wege einstweiliger Anordnung wegen Gefahr im Verzug ohne vorherige Anhörung der Beteiligten ergeht, dann findet oft gar keine weitere Ermittlung des Sachverhaltes zwischen Einleitung des Verfahrens und Entscheidung statt: Der Richter liest das Schreiben des Jugendamtes, leitet das Verfahren ein und erlässt direkt den Beschluss. Er weiß also schon bei Verfahrenseinleitung, wie er entscheiden wird. 

Nach der Vorstellung der Staatsanwaltschaft hätte Richter Dettmar bei oder vor Verfahrenseinleitung eine Selbstanzeige gem. § 48 ZPO des Inhalts machen müssen, dass er der Frage, ob die Maskenpflicht in Schulen kindeswohlgefährdend ist, nicht „neutral“ gegenüberstehe (aufgrund welcher Umstände das der Fall war, wäre für die Selbstanzeige unerheblich). Wenn das nach dem Gesetz verlangt wäre – wobei die Nichtanzeige hier sogar den Vorwurf der Rechtsbeugung begründen soll! – dann müsste jeder Familienrichter bei oder vor Einleitung eines Verfahrens nach § 1666 BGB eine Selbstanzeige gem. § 48 ZPO machen. Die Absurdität dieser Konsequenz zeigt, dass die Staatsanwaltschaft – entgegen anderslautenden Versicherungen in der Anklageschrift – die Besonderheiten des Amtsverfahrens gem. § 24 FamFG bei ihren Vorwürfen schlicht nicht berücksichtigt hat.

Die Vorbereitung des Verfahrens ist aber nicht das einzige Argument, mit dem der Vorwurf fehlender Objektivität gegenüber dem Verfahrensgegenstand belegt werden soll. Dieser soll sich auch aus der Auswahl der (für eine coronamaßnahmenkritische Position bekannten) Sachverständigen ergeben. Auch hier ist aber noch vor der Erörterung der Frage, ob die Auswahl dieser Sachverständigen eine Besorgnis der Befangenheit begründen kann, festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft ihren eigenen Vorwurf, der eine Rechtsbeugung begründen soll, nicht durchbuchstabiert: Da die Selbstablehnung nicht darin besteht, dass ein Richter erklärt, er halte sich für befangen (das ist irrelevant), sondern dass er „von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte“ (§ 48 ZPO), müsste der Vorwurf der Staatsanwaltschaft hier konkret lauten, Richter Dettmar hätte dem für die Entscheidung über seine Ablehnung zuständigen Richter mitteilen müssen, dass er in dem Verfahren die Professoren Kappstein, Kämmerer und Kuhbandner mit Gutachten beauftragt habe. Das erscheint schon allein deshalb seltsam, weil die Beauftragung der Sachverständigen in dem Verfahren offen zu Tage lag. Die betreffenden Beweisbeschlüsse waren den Beteiligten übersandt worden, so dass auch das Bildungsministerium davon wusste und deshalb auch selbst einen Befangenheitsantrag hätte stellen können (was es nicht getan hat). Dass aber angesichts dieser Umstände die Verletzung dieser (angeblichen) Pflicht zur Selbstanzeige sogar ein rechtsbeugungsrelevanter „elementarer Rechtsverstoß“ sein soll, ist auch auf der Basis der vorgängigen Überlegungen der Staatsanwaltschaft unbegründbar.

Im Übrigen lässt die Auswahl maßnahmenkritischer Sachverständiger aber auch keineswegs auf fehlende Objektivität gegenüber der Sache schließen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn es eine allgemein erwiesene und von jedem Richter seiner Arbeit zu Grunde zu legende Tatsachenwahrheit wäre, dass die Corona-Politik „richtig“ und Kritik daran „falsch“ war. Die Staatsanwaltschaft legt diese Annahme den Vorwürfen gegen Richter Dettmar allerdings offensichtlich zugrunde. Nach ihren Vorstellungen wäre die Beauftragung z. B. von Prof. Christian Drosten mit einem Gutachten zum PCR-Test mutmaßlich unproblematisch gewesen, die Beauftragung von Prof. Ulrike Kämmerer soll dagegen – weil sie die Corona-Politik und insbesondere die massenhafte Anwendung des PCR-Tests kritisiert hat – ein Zeichen mangelnder Objektivität sein. Um die Sachverständigenauswahl kritisieren zu können, müsste sich die Staatsanwaltschaft erst einmal mit dem Inhalt der eingeholten Gutachten befassen und prüfen, ob die Gutachten wissenschaftlichen Kriterien und den Standards von Gerichtsgutachten standhalten. Das tut sie aber nicht, wie sie auch sonst allen inhaltlichen Fragen aus dem Weg geht.33Hätte die Staatsanwaltschaft sich inhaltlich mit den Gutachten auseinandergesetzt, wäre sie auch auf die Frage gestoßen, warum eigentlich die Landesregierung, die doch die Maßnahmen angeordnet und zu verantworten hatte, keine wissenschaftlichen Gutachten zur Frage der Wirksamkeit einer Maskenpflicht in der Schule und zu den mit ihr verbundenen physischen und psychischen Gefährdungen und Belastungen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eingeholt hat. Die Feststellung, dass die drei Gutachter Mitglieder des Vereins MWGFD e. V. sind, soll offenbar die inhaltliche Auseinandersetzung ersetzen. Damit werden die Vorurteile der Staatsanwaltschaft zur Grundlage von strafrechtlichen Vorwürfen gegen Richter Dettmar gemacht. 

6.  Die Ausweitung des Beschlusstenors von zwei Kindern auf alle Schüler der beiden Schulen 

Richter Dettmar hat sich nicht darauf beschränkt, eine Anordnung in Bezug auf die beiden Schüler, deren Eltern das Verfahren angeregt hatten, zu treffen, sondern hat den Beschluss auf alle Schüler der beiden Schulen der Kinder ausgeweitet.34Dies unterscheidet den Beschluss maßgeblich von dem Beschluss des Amtsgerichts Weilheim vom 13.04.2021, 2 F 192/21, juris und openJur. In dem Weilheimer Fall waren ebenfalls Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung gestellt worden. Die Staatsanwaltschaft München II hat deshalb Vorermittlungen geführt, diese dann aber mangels Anfangsverdachtes bereits im Juli 2021 eingestellt, wobei sie sich auch auf die bereits erwähnte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.06.2021, 6 AV 1.21, berief. Auch von dieser Entscheidung einer anderen Staatsanwaltschaft hat sich die Staatsanwaltschaft Erfurt offensichtlich nicht beirren lassen. Das war äußerst ungewöhnlich, um es zurückhaltend auszudrücken, und wirft eine Reihe von Problemen auf: Der Beschluss erstreckte sich damit auf Personen, die dem Gericht namentlich noch gar nicht bekannt waren, die gesetzlichen Vertreter der betroffenen Schüler wussten nichts von dem Verfahren und die Durchführung einer – im einstweiligen Anordnungsverfahren auf Antrag und im Hauptsacheverfahren in jedem Fall obligatorischen – mündlichen Erörterung mit den Beteiligten (Hunderte Eltern!) wäre praktisch gar nicht durchführbar gewesen. Gleichwohl muss man festhalten, dass im Verfahren der einstweiligen Anordnung, wenn Gefahr im Verzug bejaht wird, ein Beschluss ergehen kann, ohne dass Kind(er) oder Eltern angehört wurden, sogar, ohne dass die Eltern überhaupt von dem Verfahren wissen, solange nur aus Sicht des Gerichts die Kindeswohlgefährdung hinreichend glaubhaft ist. Dies kommt in der Praxis auch gar nicht selten vor. Alle notwendigen Verfahrenshandlungen können nach Erlass des Beschlusses nachgeholt werden. Und auch wenn die Schüler nicht namentlich bekannt waren, war doch hinreichend bestimmt, wen der Beschluss betraf. 

Ein echter Fehler bei der Ausweitung des Tenors liegt allerdings darin, dass Richter Dettmar nach der Geschäftsverteilung des Amtsgerichts Weimar nicht für alle Schüler der beiden Schulen zuständig war, sondern nur für Schüler, deren Familiennamen mit den Buchstaben B, E, F, H, I, J, L, Q, R, S, T, U, V oder X begann. Da schon rein statistisch auszuschließen ist, dass die gesamte Schülerschaft zweier Schulen allein aus Schülern besteht, deren Familienname mit diesen Buchstaben beginnt, hat er damit für Kinder und Jugendliche mitentschieden, bei denen die Sache gar nicht auf seinem Tisch gelandet wäre, wenn die Eltern ein Verfahren gem. § 1666 BGB bei Gericht angeregt hätten. Zwei Fragen stellen sich hier: Hat Richter Dettmar dabei vorsätzlich gehandelt oder war es ein Versehen? Und falls Vorsatz zu bejahen wäre: Wäre das ein elementarer Rechtsverstoß, ein so schwerwiegendes „Entfernen von Recht und Gesetz“, dass es den Vorwurf der Rechtsbeugung tragen könnte? 

Hinsichtlich des Vorsatzes muss man fragen, ob es vorstellbar ist, dass einem erfahrenen Richter ein solcher Fauxpas, nicht an seine „Buchstabenzuständigkeit“ zu denken, unterlaufen kann. Die Staatsanwaltschaft wird sicher sagen: nein, so etwas passiert keinem Richter aus Versehen, das ist nach der Lebenserfahrung ausgeschlossen. Allerdings passieren, wo Menschen handeln, immer wieder Dinge, die man zuvor „nach der Lebenserfahrung“ für ausgeschlossen gehalten hätte. Vermutlich jeder hat schon mal erlebt, dass ihm – gerade in einer Stresssituation – ein Versehen unterlaufen ist, von dem er zuvor gedacht hat, das werde ihm auf keinen Fall passieren. Und die Vermutung liegt jedenfalls nicht fern, dass Richter Dettmar bei Abfassung des Beschlusses unter ganz erheblichem Stress und Anspannung stand, weil er ahnen konnte, dass der Beschluss enorme, für ihn nicht nur positive Wellen schlagen würde. Dies wäre jedenfalls eine mögliche Erklärung für ein Versehen, das ihm „normalerweise“ nie passiert wäre.35Für ein Versehen spricht auch die äußerst lapidare Begründung der Ausweitung des Tenors auf alle Schüler, die nicht erkennen lässt, dass er sich hier über die Grenzen seiner Zuständigkeit Rechenschaft abgelegt hat. Sie besteht aus einem einzigen Satz, es ist der vorletzte der Entscheidung: „Da die Mitschüler der im Tenor namentlich genannten Kinder in gleicher Weise betroffen sind, hat das Gericht seine Entscheidung für diese mit getroffen“ (AG Weimar, 08.04.2021, 9 F 148/21, juris, Rn. 1540, openJur Rn. 1560). Und noch eine weitere Überlegung spricht gegen Vorsatz: Was sollte das Motiv gewesen sein, um einen solchen klaren Rechtsfehler, der vollkommen unnötig die Angreifbarkeit des Beschlusses erhöhte, in Kauf zu nehmen? Dass der Beschluss durch die Einbeziehung einer Vielzahl von Schülern mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregte, als wenn es bei zwei Kindern geblieben wäre, versteht sich von selbst. Aber wäre die Aufmerksamkeit wirklich geringer gewesen, wenn sich die Ausweitung des Tenors auf alle Schüler, deren Familienname mit den Buchstaben B, E, F, H, I, J, L, Q, R, S, T, U, V oder X beginnt, beschränkt hätte? Wohl kaum, möglicherweise wäre sie sogar noch größer gewesen.

Geht man nun – rein hypothetisch – doch davon aus, dass Richter Dettmar sehenden Auges die Grenzen seiner Zuständigkeit überschritten haben könnte, ist damit die Frage, ob dies eine elementarer Rechtsverstoß i. S. v. § 339 StGB wäre, noch nicht beantwortet. Die Staatsanwaltschaft, die erst im Laufe des Ermittlungsverfahrens auf die Idee gekommen ist, die Überschreitung der Grenzen der Buchstabenzuständigkeit könnte für eine Rechtsbeugung ausreichen, obwohl das Problem von Anfang an bekannt war, versucht das damit zu begründen, dass die Schüler, für die Richter Dettmar nicht zuständig war, ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden wären, was einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) darstelle. Die Entziehung des gesetzlichen Richters ist in der Tat ein Topos bei Rechtsbeugungsfällen, wobei der Vorwurf in diesen Fällen allerdings darin besteht, dass der Richter aus sachfremden Erwägungen die Zuständigkeit an sich gezogen und den tatsächlich zuständigen Richter von der Entscheidung ausgeschlossen habe, um eine Entscheidung herbeizuführen (z. B. den Erlass eines Haftbefehls), die bei Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften voraussichtlich nicht zu erreichen gewesen wäre.36Vgl. BGH, 11.04.2013, 5 StR 261/12; juris, openJur. Letzteres kann man sicher auch von dem hier gegenständlichen Fall sagen, aber dass hier Betroffene ihrem gesetzlichen Richter „entzogen“ worden wären, stimmt allenfalls in einem sehr weiten Sinn: Hätte Richter Dettmar nicht hinsichtlich dieser Kinder entschieden, hätte mutmaßlich kein anderer Richter darüber entschieden, es wäre einfach keine andere Entscheidung ergangen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Entscheidung „nur“ auf andere Schüler ausgeweitet wurde, aber von einer tatsächlich bestehenden Zuständigkeit (der Familienname der beiden Kinder beginnt mit „B“) ausging. Hätte Richter Dettmar dagegen eine Anregung betreffend Kinder mit dem Anfangsbuchstaben „A“ an sich genommen (was schon praktisch kaum möglich wäre, weil die Sache dann von der Geschäftsstelle des Gerichts gar nicht für sein Dezernat eingetragen worden wäre) und ein Verfahren nach § 1666 BGB eingeleitet, wäre die Sache sicher anders zu beurteilen. Dann hätte es sich auch um eine „echte“ Entziehung des gesetzlichen Richters gehandelt. Es spricht daher viel dafür, dass, selbst wenn Richter Dettmar vorsätzlich für Schüler, für die er nicht zuständig war, mitentschieden hätte, dies nicht für eine Rechtsbeugung ausreichen würde.37Ein Beispiel für einen krassen Fall einer (vorsätzlichen) richterlichen Fehlentscheidung, auch im Zusammenhang mit den Anregungen für Verfahren gem. § 1666 BGB wegen der Maskenpflicht in der Schule, allerdings von der anderen Seite, die dennoch wohl „nur“ als Rechtsprechungsexzess und nicht als Rechtsbeugung zu bewerten ist, schildert Oliver García in: Der Richter und sein Lenker – Von Rechtsbeugung und anderen schrägen Sachen. Hier hatte ein Leipziger Amtsrichter nach Eingang einer Anregung durch die Mutter eines Schulkindes noch am selben Tag einen Hinweisbeschluss (15.04.2021, 335 F 1187/21) erlassen, in dem er mitteilte, er werde ein Verfahren einleiten, aber nicht gegen die Schule, sondern gegen die Mutter, weil die Antragstellung Zweifel an ihrer Erziehungseignung wecke und hatte den Verfahrenswert vorläufig auf 1.400.000,00 € (!) festgesetzt, weil die Anregung schätzungsweise 350 Kinder betreffe (350 × 4000 €). So gegensätzlich die Entscheidungen sind, kann man zur Abgrenzung von Rechtsprechungsexzess und Rechtsbeugung in diesen Fällen folgendes sagen: Es reicht für Rechtsbeugung nicht aus, wenn ein Richter in einem Hinweisbeschluss beim Verfahrenswert eine vollkommen utopische, auch noch rechtlich unmögliche, weil die Höchstgrenze sprengende Zahl (dazu näher García, a. a. O.) hinschreibt, auch dann nicht, wenn damit „ein reines Repressionsziel“ (ebd.) gegenüber einer Rechtssuchenden verfolgt wird. Das ist zwar rechtswidrig, es ist willkürlich und selbstredend empörend, aber am Ende doch nur eine falsche Entscheidung, bei der es am „Beugen“ des Rechts fehlt. Genauso wenig kann es für Rechtsbeugung ausreichen, wenn ein Richter in einem Beschlusstenor den Worten „für diese“ (gemeint sind die beiden Kinder, deren Eltern das Verfahren angeregt hatten) noch die Worte „und alle weiteren an diesen Schulen unterrichteten Kinder und Schüler“ hinzufügt. Das ist, jedenfalls soweit die eigene Zuständigkeit überschritten wird, zwar falsch, aber mit einem aus 10 Wörtern bestehenden falschen Federstrich wird das Recht ebenfalls nicht gebeugt.

7. Die weiteren Tatvorwürfe

Die übrigen Vorwürfe können kurz abgehandelt werden. Sie lauten:

  • Durch das Unterlassen von Anhörungen von Beteiligten vor der Entscheidung sei der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt worden.
  • Bei der Auswahl des Verfahrensbeistandes für die beiden Kinder sei Richter Dettmar seiner Prüfpflicht aus § 158 Abs. 1 FamFG alte Fassung38Die Norm wurde mit Wirkung ab 01.07.2021 geändert. nicht nachgekommen. Er habe die Rechtsanwältin, die zuvor noch nicht vom Amtsgericht Weimar als Verfahrensbeistand bestellt worden sei, nur deshalb ausgewählt, weil sie coronamaßnahmenkritisch gewesen sei.
  • Dass von der Einleitung des Verfahrens bis zur Entscheidung 3 ½ Wochen vergingen, sei willkürlich gewesen und habe allein dem Zweck gedient, die im Hauptsacheverfahren eingeholten Sachverständigengutachten öffentlichkeitswirksam zu verwerten.
  • Nach § 51 Abs. 3 Satz 2 FamFG könnten zwar einzelne Verfahrensergebnisse des Verfahrens der einstweiligen Anordnung in das Hauptsacheverfahren übertragen werden, umgekehrt sei dies jedoch nicht möglich. Die Gutachten hätten daher im Verfahren auf einstweilige Anordnung gar nicht verwertet werden dürfen.
  • Der Untersagung der Anordnung der Teilnahme an Schnelltests und dem Gebot der Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts, was von der Kindesmutter gar nicht angeregt wurde, würde in dem Verfahren jegliche rechtliche und tatsächliche Grundlage fehlen.

Dazu ist in Kürze Folgendes zu bemerken: 

  • Wie bereits dargelegt, können Beschlüsse in Verfahren auf einstweilige Anordnung bei Gefahr im Verzug vor Anhörung der Beteiligten ergehen, die Anhörungen sind dann unverzüglich nachzuholen. Das weiß auch die Staatsanwaltschaft, meint aber, wenn eine Anhörung unterblieben sei, obwohl „Gefahr im Verzug“ nicht zu bejahen gewesen sei (was hier so sein soll), könnte dies den Vorwurf der Rechtsbeugung rechtfertigen. Mit einer mangels Gefahr im Verzug lediglich auf die Zeit nach Beschlusserlass verschobenen (nicht endgültig unterlassenen) Anhörung entfernt sich aber ein Richter niemals „in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz und richtet sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an eigenen Maßstäben aus“. Hier zeigt sich sehr deutlich, dass die Staatsanwaltschaft bei der Suche nach Fehlern in dem Beschluss die maßgeblichen Kriterien für eine Rechtsbeugung aus dem Blick verloren hat. 
  • Dasselbe gilt für die Auswahl des Verfahrensbeistandes: Selbst wenn die Geeignetheit der betreffenden Rechtsanwältin nicht ausreichend geprüft worden wäre, kann die Verletzung dieser Pflicht niemals das Gewicht eines elementaren Rechtsverstoßes haben. Im Übrigen ist nicht nachvollziehbar, dass die Staatsanwaltschaft meint, für diesen Vorwurf nicht die Frage beantworten zu müssen, ob die ausgewählte Rechtsanwältin tatsächlich ungeeignet war (dass sie coronamaßnahmenkritisch war, besagt insoweit selbstverständlich wieder gar nichts).
  • Dass Richter Dettmar vorgeworfen wird, er habe mit dem Beschluss zu lange zugewartet, ist insofern erstaunlich, als ihm zugleich vorgeworfen wird, dass er ihn überhaupt erlassen hat. Für das Bildungsministerium, dem eine Stellungnahmefrist von zwei Wochen eingeräumt worden war (s. o. Abschnitt 3), kam die Entscheidung noch zu früh und was den Vorwurf der Willkür anbelangt: Vom 27. März bis 11. April 2021 waren in Thüringen Osterferien. Ob der Beschluss am 27. März oder am 8. April erging, war daher für die betroffenen Kinder irrelevant.
  • Dass die im Hauptsacheverfahren eingeholten Sachverständigengutachten im Verfahren auf einstweilige Anordnung nicht hätten verwertet werden dürfen, gibt nicht nur der Wortlaut des von der Staatsanwaltschaft zitierten § 51 Abs. 3 Satz 2 FamFG nicht her, es ist auch schlicht falsch. Das Familiengericht entscheidet gemäß § 30 Abs. 1 FamFG nach pflichtgemäßem Ermessen, ob es die relevanten Tatsachen durch eine förmliche Beweisaufnahme nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (Strengbeweisverfahren) oder im Freibeweisverfahren feststellt. Im Verfahren auf einstweilige Anordnung ist es sogar ausreichend, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung glaubhaft gemacht sind (§ 51 Abs. 1 S. 2 FamFG), was ein geringerer Grad an Wahrscheinlichkeit ist als die im Hauptsacheverfahren erforderliche volle Überzeugung vom Vorliegen der relevanten Tatsachen. Für den Freibeweis kommen als Beweismittel alle erdenklichen Mittel in Betracht, die zur Überzeugungsbildung des Gerichts beitragen können.39MüKoFamFG/Ulrici FamFG § 29 Rn. 12. Richter Dettmar hätte die Gutachten daher – von urheberrechtlichen Fragen einmal abgesehen – selbst dann im einstweiligen Anordnungsverfahren verwerten können, wenn sie gar nicht von ihm in Auftrag gegeben worden wären, sondern z. B. in einer Fachzeitschrift oder auf einer privaten Webseite der Sachverständigen veröffentlicht worden wären. 
  • Bei der Anordnung bezüglich Schnelltest und Präsenzunterricht und dem diesbezüglichen Vorwurf fehlender rechtlicher und tatsächlicher Grundlagen bleibt unklar, welche Vorschriften verletzt worden sein sollen. Nach der Gliederung der Anklage wird dieser Vorwurf als Verstoß gegen materielles Recht aufgeführt. Dann hätte die Staatsanwaltschaft aber tatsächlich auch Stellung zu der Frage beziehen müssen, ob diese Maßnahmen kindeswohlgefährdend waren oder nicht. Das tut sie aber – wie auch bei der Maskenpflicht – nicht, wirft aber Richter Dettmar vor, dass er es aufgrund des vorliegenden Verfahrensstoffs auch nicht hätte wissen können.

Hinzu kommt, dass die Staatsanwaltschaft bei all diesen Vorwürfen übersieht, dass Rechtsbeugung durch einen Verstoß gegen Verfahrensrecht überhaupt nur dann in Betracht kommt, wenn durch die Verfahrensverletzung die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung zum Vor- oder Nachteil einer Partei begründet wurde (s. o. Abschnitt 1). Die Staatsanwaltschaft müsste also darlegen, dass z. B. die (angeblich) mangelhafte Prüfung der Eignung des Verfahrensbeistandes oder das Unterlassen der Anhörung der beiden Kinder die konkrete Gefahr einer materiellrechtlich, also inhaltlich falschen Entscheidung geschaffen oder erhöht habe. 

8.  Was in der Anklage fehlt 

Gemäß § 160 Abs. 2 Satz 1 StPO hat die Staatsanwaltschaft nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung des Beschuldigten dienenden Umstände zu ermitteln. Dies ist die sog. Objektivitätspflicht der Staatsanwaltschaft und aufschlussreich ist diesbezüglich bei der Anklage nicht nur, mit welchen Fragen sich die Staatsanwaltschaft beschäftigt, sondern auch, mit welchen nicht. Hier fallen besonders drei Dinge auf:

  • Neben dem sog. Anklagesatz, in dem die vorgeworfene Tat geschildert und mitgeteilt wird, wie die Tat aus Sicht der Staatsanwaltschaft rechtlich zu bewerten ist (§ 200 Abs. 1 S. 1 StPO) und der Bezeichnung der Beweismittel (§ 200 Abs. 1 S. 2 StPO), ist in einer Anklage auch das sog. wesentliche Ergebnis der Ermittlungen darzustellen (§ 200 Abs. 2 StPO). Das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen soll den Angeschuldigten, den Verteidiger, aber auch das Gericht und den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft über den Sachstand, die Beweislage und alle sonstigen für die Entscheidung relevanten, nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens erkennbaren Umstände unterrichten.40Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, § 200 Rn. 56. Essentiell ist dabei die Mitteilung der Beweisgründe, die Beweiswürdigung, d. h. die Darstellung, wie die Staatsanwaltschaft zu dem Anklagevorwurf kommt und wie der Vorwurf rechtlich zu bewerten ist. Soweit der Angeschuldigte sich zur Sache eingelassen hat, ist diese Einlassung mitzuteilen und wie sie mit welchen Gründen von der Staatsanwaltschaft bewertet wird.41Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, a. a. O., Rn. 62; ebenso MüKoStPO/Wenske StPO § 200 Rn. 87: „Die erforderlichen Angaben zur Einlassung des Angeschuldigten sollten eine möglichst umfassende Information der Verfahrensbeteiligten in den Blick nehmen“ und KK-StPO/Schneider StPO § 200 Rn. 21. Dieser Verpflichtung genügt die Staatsanwaltschaft in der Anklage nicht einmal ansatzweise. Richter Dettmar hat sich über seinen Verteidiger im Ermittlungsverfahren in mehreren, teilweise umfangreichen Schriftsätzen zur Sache eingelassen. Punkt für Punkt sind dabei die Vorwürfe, die sich aus dem Akteninhalt, aber insbesondere auch aus den beiden Durchsuchungsbeschlüssen ergaben, abgearbeitet worden. Im wesentlichen Ermittlungsergebnis der Anklage, das immerhin 43 Seiten umfasst, wird aber nur an einer einzigen Stelle ein Einwand aus einem Schriftsatz der Verteidigung zitiert, das ist alles. Im Übrigen wird die Einlassung über die Verteidigung mit keinem Satz erwähnt, geschweige denn, dass sie im Zusammenhang mitgeteilt und sich mit ihr auseinandergesetzt würde. Es wirkt, als wäre die Einlassung des Beschuldigten für die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft in diesem Verfahren ohnehin von vornherein irrelevant gewesen.
  • Der – für den Tatbestand der Rechtsbeugung essentielle – Vorwurf, Richter Dettmar habe bei sämtlichen, ihm von der Staatsanwaltschaft vorgeworfenen Rechtsfehlern vorsätzlich gehandelt, wird an keiner Stelle näher begründet. Man liest wiederholt, er habe (als erfahrener Familienrichter) gewusst, dass sich dies und das so und so verhalte, die Möglichkeit fahrlässigen Handelns wird dabei aber nie auch nur in Erwägung gezogen. Dadurch entsteht der Eindruck, für die Staatsanwaltschaft verstehe es sich von selbst, dass Richter Dettmar bei allen (tatsächlichen oder vermeintlichen) Rechtsfehlern vorsätzlich gehandelt haben muss. 
  • Schließlich fällt auf, dass die Anklage inhaltlichen Fragen strikt aus dem Weg geht. Richter Dettmar wird angeklagt wegen eines Beschlusses, in dem Corona-Maßnahmen in der Schule als kindeswohlgefährdend bewertet wurden, die Corona-Maßnahmen sollen aber nicht thematisiert werden. Ob die Maskenpflicht und die anderen Maßnahmen in den Schulen wirksam und die Maßnahmen im Hinblick auf das Kindeswohl unbedenklich waren oder nicht – um nur zwei Fragen von vielen zu nennen – das alles soll im Verfahren keine Rolle spielen. Stattdessen soll es nur um Verfahrensverstöße und eine Gesetzesauslegung (§ 1666 Abs. 4 BGB) gehen. Dies ist aber schon deshalb äußerst fragwürdig, als es – und das wird in der Rückschau auch von Befürwortern der Corona-Maßnahmen in der Schule kaum bestritten werden – letztlich von Anfang an die inhaltlichen Fragen waren, die den Beschluss vom 08.04.2021 in den Augen der Politik, der Presse und auch der Strafverfolgungsbehörden zum „Skandal“ machten. Der „Skandal“, auf den sofort mit Rufen nach dem Strafrecht reagiert wurde, bestand in Wahrheit nicht darin, dass ein Familienrichter die Arbeit von Verwaltungsrichtern an sich gezogen haben sollte, sondern was er entschieden hatte: Dass er in einem gerichtlichen Beschluss erklärte, dass die vom Bildungsministerium angeordneten Corona-Maßnahmen in den Schulen kindeswohlgefährdend seien und dass er dies nicht nur erklärte, sondern auch noch korrigierend eingreifen wollte. Hätte das Verwaltungsgericht Weimar, das von den Eltern der beiden Kinder parallel zu dem familiengerichtlichen Verfahren angerufen worden war, mit dem in diesem Verfahren ergangenen Beschluss42VG Weimar, 20.04.2021, 8 E 416/21, juris und openJur. die Allgemeinverfügung, die die Corona-Maßnahmen in der Schule regelte, wegen Unverhältnismäßigkeit für verfassungswidrig erklärt, wäre der politische Aufruhr sicher kein geringerer gewesen als nach der Entscheidung des Familiengerichts und das ganz ohne Zuständigkeitsfragen. Es ist aber auch insofern nicht sachgerecht, als die Frage, ob ein elementarer Rechtsverstoß i. S. v. § 339 StGB vorliegt, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs43S. o. Abschnitt 1. „auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände“ zu beantworten ist und dafür das objektive Gewicht und Ausmaß des Rechtsverstoßes und die Motive des Richters relevant sind. Bei dieser wertenden Gesamtbetrachtung können aber die inhaltlichen Fragen nicht außer Acht bleiben, denn für Gewicht und Ausmaß des Rechtsverstoßes bzw. der Rechtsverstöße, die Richter Dettmar vorgeworfen werden, sind die möglichen Folgen von wesentlicher Bedeutung. Mit der Frage, ob er mit dem Beschluss effektive und zugleich Kindern ohne weiteres zumutbare oder aber physisch und psychisch belastende Maßnahmen, für deren Wirksamkeit es zudem keine wissenschaftliche Evidenz gab, zu unterbinden versucht hat, hätte sich daher schon die Staatsanwaltschaft beschäftigen müssen. Sollte die Strafkammer tatsächlich eine Tatbestandserfüllung in Betracht ziehen, wird sie im Prozess jedenfalls an diesen Fragen kaum vorbeikommen.

9. Fazit 

Die Analyse hat gezeigt, dass der Rechtsbeugungsvorwurf der Staatsanwaltschaft gegen Richter Dettmar einer eingehenden rechtlichen Prüfung nicht standhalten kann. Die Staatsanwaltschaft hat sich bemüht, eine Geschichte des Beschlusses vom 08.04.2021 zu schreiben, bei der das Handeln des verfahrensführenden Richters unter den Tatbestand des § 339 StGB subsumiert werden kann. Sie hat dabei im Ermittlungsverfahren einen beachtlichen Aufwand betrieben: Nicht nur bei Richter Dettmar, sondern auch bei den drei Sachverständigen und bei fünf Zeugen wurden Wohnungen und Diensträume durchsucht. Anschließend erfolgte eine monatelange Auswertung der sichergestellten Laptops und Telefone durch die Polizei. Das alles mit dem Ergebnis, dass Richter Dettmar ein Amtsverfahren, das vom Familiengericht initiiert werden kann und ggf. auch initiiert werden muss, selbst initiiert hat. Angesichts dieses Nullresultats versucht sich die Staatsanwaltschaft in den Vorwurf der Befangenheit zu retten, die Richter Dettmar hätte selbst anzeigen müssen. An dem für die Zwecke eines Rechtsbeugungsverfahrens längst über Bord der Rechtsprechung gegangenen Vorwurf, Richter Dettmar hätte ein Verfahren, für das die Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig gewesen wäre, an sich gezogen, hält sie unbeirrt fest, auch wenn sie nach dieser Auffassung – örtliche Zuständigkeit vorausgesetzt – sogar ein Verfahren wegen Rechtsbeugung gegen die Richter des 6. Senats des Bundesverwaltungsgerichts, die die Beschlüsse vom 16. und 21.06.2021 erlassen haben, hätte einleiten müssen und ihre Kollegen von der Staatsanwaltschaft München II es schon im Juli 2021 besser wussten (s. Endnote 34). Weil sie sich ihrer Sache nicht sicher ist, wird versucht, das Ganze mit einer Reihe weiterer, kleinerer Vorwürfe aufzufüllen, die nur zeigen, dass der Staatsanwaltschaft in ihrer Fehlersuche die Tatbestandsvoraussetzungen des § 339 StGB außer Sicht geraten und auch ihre Kenntnisse im FamFG am Ende doch lückenhaft sind. 

Dieses Strafverfahren ist ein politisches Verfahren: Das Ermittlungsverfahren fällt in die Hochzeit der Corona-Krise, die von Beginn an von einer extremen Diskursverengung und der Ausgrenzung von Kritikern der Corona-Politik aus dem gesellschaftlichen Diskurs geprägt war. Dies muss hier nicht näher ausgeführt werden, weil es inzwischen auch von den (ehemaligen) Verfechtern der Corona-Politik nicht mehr ernsthaft in Abrede gestellt wird. Die Anklageschrift entstand nicht nur in diesem Kontext, sie ist

  • mit der unhinterfragten Annahme, dass die Corona-Maßnahmen (in der Schule) berechtigt, Maßnahmenkritik dagegen unberechtigt gewesen sei, 
  • mit der Weigerung, die Frage, ob die Maskenpflicht in der Schule möglicherweise kindeswohlgefährdend war, überhaupt zu stellen, 
  • mit der Einseitigkeit der Ermittlungen und der Einseitigkeit der tatsächlichen und rechtlichen Schlussfolgerungen aus den Ermittlungsergebnissen, 
  • mit ihrer Ignoranz gegenüber dem Vorbringen der Verteidigung und abweichenden Rechtsauffassungen anderer Gerichte und schließlich 
  • mit der bereitwilligen und unreflektierten Unterstellung illegitimer Motive auf Seiten von Richter Dettmar 

selbst ein Dokument dieser Zeit. 

Inzwischen hat sich die gesellschaftliche Diskussion gewandelt. Der Sachverständigenausschuss zur Evaluation der Corona-Maßnahmen nach § 5 Abs. 9 Infektionsschutzgesetz hat schon in seinem Bericht vom 30.06.202244Dort S. 70. offiziell festgestellt, dass ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar ist. Dass die Schulschließungen unnötig waren, ist inzwischen allgemeiner Konsens (während die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage der Anordnung der Präsenzpflicht in dem Beschluss vom 08.04.2021 noch mit dem Argument, dafür würden die tatsächlichen Grundlagen in dem Verfahren fehlen, zu begegnen versucht). Dass auch die Maskenpflicht in der Schule unnötig war, jedenfalls auch nach über zwei Jahren der Krise keine wissenschaftliche Evidenz für ihren epidemiologischen Nutzen gegeben ist,45Die Cochrane-Gesellschaft, deren Veröffentlichungen als Goldstandard in der evidenzbasierten Medizin gelten, kommt in einer am 30.01.2023 veröffentlichten Meta-Studie zu dem Ergebnis, dass das Maskentragen epidemiologisch gesehen keinen oder allenfalls einen geringen Effekt hinsichtlich der Ausbreitung von Covid-19 hat. (wie das die Sachverständige Kappstein in ihrem in dem Verfahren eingeholten Gutachten bereits im April 2021 festgestellt hat), hat man zwar noch von keinem der verantwortlichen Politiker gehört. Dass ein Politiker aber gegenwärtig noch äußern könnte, er sei unverändert der Auffassung, dass die Maskenpflicht in der Schule eine richtige Maßnahme gewesen sei, erscheint inzwischen fast undenkbar. 

Die Frage ist nach alledem, ob die 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt bereit ist, in einen Zeittunnel zurück in das Frühjahr 2022 oder 2021 einzufahren und sich die Brille aufzusetzen, durch die die Kritiker der Corona-Maßnahmen als vom Weg der Vernunft abgekommen erscheinen, denen jederzeit Schlimmes (Rechtsbeugung!) zuzutrauen ist, oder ob sie diese Brille liegen lässt und es der Kammer stattdessen gelingt, einen unvoreingenommenen Blick auf den Sachverhalt und die Person des Angeklagten zu werfen. Sie könnte dann vielleicht in Christian Dettmar einen Kollegen erkennen, der auf das – jedenfalls von ihm als solches betrachtete – Unrecht der Corona-Maßnahmen in der Schule mit den Mitteln des Rechts reagieren wollte und dem nichts fernerlag, als Unrecht seinerseits mit Unrecht zu begegnen.

Endnoten

  • 1
    Auch in dem anderen Verfahren, in dem bisher nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden wurde, ist die Staatsanwaltschaft Erfurt die Anklagebehörde.
  • 2
    Der Text in den Endnoten wird teilweise nur für Juristen verständlich sein, der Haupttext soll aber einen geschlossenen Gedankengang bieten, so dass die Endnoten für das Verständnis nicht zwingend erforderlich sind und beim Lesen auch übergangen werden können.
  • 3
    Rechtsbeugung wird (fast) immer wegen der besonderen Bedeutung des Falles im Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) beim Landgericht angeklagt.
  • 4
    Im zitierten Text enthaltene Klammerverweise auf andere Urteile werden hier nicht wiedergegeben.
  • 5
    BGH, 18.08.2021, 5 StR 39/21, juris Rn. 34 = openJur Rn. 40; ständige Rechtsprechung. – Soweit Entscheidungen auch bei www.openjur.de veröffentlicht sind, wird auch die dortige Fundstelle angegeben, weil openJur anders als juris frei zugänglich ist.
  • 6
    Das Erlassdatum wurde von der Geschäftsstelle des Amtsgerichts nachträglich vom 08.04. auf den 09.04. abgeändert, in den juristischen Datenbanken juris und openJur ist aber unverändert der 08.04.2021 angegeben.
  • 7
    Zum Antragsverfahren s. § 23 FamFG.
  • 8
    Der Durchsuchungsbeschluss lag den Autoren vor.
  • 9
    Das Thüringer Bildungsministerium hat allerdings erklärt, dass der Beschluss nur hinsichtlich der beiden Kinder, deren Mutter die Anregung gestellt hatte, umgesetzt würde, nicht hinsichtlich der anderen Kinder. Dazu sehr kritisch Lies-Benachib, Masken-Gate?, in: Betrifft Justiz 2021, S. 70-73.
  • 10
    Wobei auch das nicht unumstritten ist. Einer breiten Meinung in Rechtsprechung und Literatur zufolge sind Maßnahmen nach § 1666 BGB, die nicht auf einen (teilweisen) Entzug der elterlichen Sorge gerichtet sind, nicht nach § 57 S. 2 Nr. 1 FamFG anfechtbar (vgl. Prütting/Helms-Dürbeck, FamFG, § 57 Rn. 5). Das Oberlandesgericht Jena ist allerdings in seiner Entscheidung vom 14.05.2021, auf die sogleich zu sprechen gekommen wird, davon ausgegangen, dass hier die Beschwerde nach mündlicher Erörterung eröffnet gewesen wäre (OLG Jena, 14.05.2021, 1 UF 136/21, juris Rn 33 = openJur Rn. 37).
  • 11
    Diese und weitere Einzelheiten können dem Beschluss des OLG Jena vom 14.05.2021, 1 UF 136/21, entnommen werden.
  • 12
    Dass ihm der Schriftsatz vor Übergabe des Beschlusses an die Geschäftsstelle als Zeitpunkt des Beschlusserlasses gem. § 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG bekannt war, ist allerdings nicht mehr als eine Mutmaßung des Oberlandesgerichts Jena, wie sich aus den Ausführungen des OLGs selbst ergibt (a. a. O., juris Rn. 36-38; openJur Rn. 40-43). Auch die Staatsanwaltschaft beschäftigt sich im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen mit dieser Frage und kommt zu dem Ergebnis, dass dies nicht nachweisbar sei. Nach der – nicht näher begründeten – Auffassung des OLG war die Kenntnis von dem Schriftsatz aber die notwendige Bedingung für die Zulässigkeit der Beschwerde. Somit hing die Entscheidung des OLG vollständig an einer Mutmaßung! – Ob die rechtzeitige Kenntniserlangung entscheidend war, wie das OLG voraussetzt ist allerdings rechtlich wohl nicht unumstritten: Sofern von einem Gericht keine Frist gesetzt wurde, sind unstreitig alle bis zum Erlass der Entscheidung, d. h. der Übergabe an die Geschäftsstelle, eingehenden Schriftsätze zu berücksichtigen, auch wenn die Entscheidung bereits von allen beteiligten Richtern unterschrieben war und die betreffenden Schriftsätze nicht vorgelegt und damit den Richtern unbekannt waren, vgl. BayObLG NJW-RR 1999, 1685; OLG Köln ZMR 2001, 571; BGH NJW-RR 2015, 1090. Wenn aber der fragliche Schriftsatz den entscheidenden Richtern unbekannt war und – wie hier – eine Frist gesetzt und versäumt wurde, wird dies wohl anders zu beurteilen sein, da dann keine Verletzung des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG vorliegen dürfte (ebenso offensichtlich BGH NJW-RR 2015, 1090 und das OLG Jena in dieser Sache; a. A. Prütting/Helms-Abramenko, FamFG § 65 Rn. 9).
  • 13
    OLG Jena, 14.05.2021, 1 UF 136/21, juris Rn. 45; openJur Rn. 49. – § 40 Abs. 1 VwGO lautet: „Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts können einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden.“
  • 14
    OLG Jena, a. a. O., juris, Rn. 46; openJur Rn. 50.
  • 15
    OLG Jena, a. a. O., juris, Rn. 47; openJur Rn. 51.
  • 16
    Entscheidend war insoweit, dass – weil ausschließlich die Beschwerde gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG zulässig war – das OLG nur über die Frage des Rechtsweges zu entscheiden hatte und nicht über die inhaltliche Richtigkeit des Beschlusses vom 08.04.2021.
  • 17
    Um Missverständnisse zu vermeiden: Auch das Bundesverwaltungsgericht sagt nicht, dass § 1666 Abs. 4 BGB dazu ermächtige, Anordnungen gegenüber Behörden zu treffen, es setzt sich mit dieser Frage gar nicht näher auseinander. Es trennt aber diese Frage – anders als das OLG Jena – klar von der Frage nach dem Rechtsweg.
  • 18
    Schoch/Schneider-Ehlers/Schneider Verwaltungsrecht, VwGO § 40 Rn. 93.
  • 19
    Deshalb setzt nach allgemeiner Auffassung die (entsprechende) Anwendung der §§ 17-17b GVG gem. § 17a Abs. 6 GVG im Verhältnis der freiwilligen zur streitigen ordentlichen Gerichtsbarkeit wie auch zu den anderen Rechtswegen (z. B. Verwaltungsrechtsweg!) voraus, dass eine Verweisung überhaupt möglich ist, was nur bei den Streitsachen und Antragsverfahren, aber nicht bei Amtsverfahren der Fall ist (Kissel/Mayer, GVG § 17 Rn. 62; so auch schon die Gesetzesbegründung: BT-Drs 16/6308, 318). Das OLG Jena (a. a. O., juris Rn. 40; openJur Rn. 44) widerspricht dem mit einer tautologischen Begründung und zwei Fundstellen (Zöller-Lückemann ZPO, § 17a GVG Rn. 1 und Kissel/Mayer, GVG § 17 Rn. 8, 17), die diese Auffassung gar nicht stützen.
  • 20
    BGH, 03.11.2021, XII ZB 289/21, juris Rn. 14; openJur Rn. 14.
  • 21
    Wie der BGH die abweichende Auffassung des BVerwG souverän unter den Tisch fallen lässt, ist geradezu phänomenal. Dabei muss man sich folgendes noch einmal klarmachen: Auch wenn BGH und BVerwG im Ergebnis beide der Auffassung sind, dass § 1666 Abs. 4 BGB nicht zu Anordnungen gegenüber Behörden ermächtigt, ist der Unterschied in Bezug auf die Frage des § 40 VwGO entscheidend: Nach dem BVerwG ist der Verwaltungsrechtsweg nicht gegeben, auf der Grundlage dieser Auffassung wäre die Beschwerde des Ministeriums gem. § 17a Abs. 4 S. 3 GVG unbegründet gewesen. Der BGH hätte die Entscheidung des OLG Jena aufheben müssen und der Beschluss des Amtsgerichts Weimar wäre wieder in Kraft gewesen. – Hat der BGH daher im Corona-Notstand gehandelt, als er die Argumentation des BVerwG ignorierte?
  • 22
    BVerwG, 16.06.2021, 6 AV 1/21, juris Rn. 7.
  • 23
    Damit ist gewissermaßen die nächsthöhere Stufe im kreativen Umgang mit entgegenstehenden Auffassungen erreicht: Sie nicht nur zu ignorieren, wie es der BGH getan hat, sondern zu behaupten, dass der andere dieselbe Auffassung wie man selbst vertreten würde.
  • 24
  • 25
    Vgl. Johannsen/Henrich/Althammer-Jokisch, Familienrecht, 7. Aufl., 2020, § 1666 Rn. 124: „Dritter iSd Vorschrift ist jede nicht sorgeberechtigte Person.“ Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666 Rn. 237: „Dritter iS der Vorschrift ist jeder Nichtelternteil“. Als Beispiel für einen Dritten i. S. v. Absatz 4, gegenüber dem gerichtliche Anordnungen zulässig sind, wird in den Kommentaren häufig auch eine psychiatrische Klinik, die die gebotene Aufnahme eines Kindes grundlos verweigert hat, genannt. Lediglich die Frage, ob das Gericht Anordnungen gem. § 1666 Abs. 4 BGB auch gegenüber dem Jugendamt treffen kann, wurde in Rechtsprechung und Literatur diskutiert und verneint. Dies lässt sich aber wegen des besonderen Verhältnisses von Gericht und Jugendamt im familiengerichtlichen Verfahren nicht ohne weiteres auf andere Träger hoheitlicher Gewalt übertragen.
  • 26
    Die Frage, ob Lehrkräfte (und nicht nur Schulleiter) überhaupt Träger von hoheitlicher Gewalt sind, ist dabei keineswegs unstrittig und spielte bei der in der Öffentlichkeit in den zurückliegenden Jahren diskutierten Frage eines Streikrechts für Lehrer eine Rolle. Im vorliegenden Fall wurde das aber bei allen zitierten Entscheidungen unhinterfragt vorausgesetzt.
  • 27
    Gegen eine Kompetenz für die hier getroffenen Anordnungen im konkreten Fall spricht allerdings etwas anderes: Anders als etwa in Bayern war die Maskenpflicht in der Schule in Thüringen nicht durch Rechtsverordnung, sondern durch eine Allgemeinverfügung, d. h. einen Verwaltungsakt angeordnet. Während Rechtsverordnungen, die wegen eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht (Gesetze oder die Verfassung) rechtswidrig sind, per se nichtig und damit unwirksam sind, sind rechtswidrige Verwaltungsakte nur in Ausnahmefällen, die in § 44 VwVfG geregelt sind, nichtig, im übrigen aber bis zu ihrer Aufhebung durch die erlassende Behörde oder das Verwaltungsgericht wirksam. Da die betreffenden Regelungen der Allgemeinverfügung nicht nichtig gem. § 44 VfwVfG sind, lief die Anordnung, die Maskenpflicht nicht durchzusetzen, darauf hinaus, dass die Lehrer geltendes Recht nicht befolgen sollten, was nicht rechtmäßig sein kann. Dass der Umstand, dass die Maskenpflicht in einer Allgemeinverfügung angeordnet war, zu diesen abweichenden rechtlichen Konsequenzen führt, haben aber offensichtlich nicht nur Richter Dettmar, sondern auch das OLG Jena und die Staatsanwaltschaft übersehen. Thematisiert wurde es, soweit ersichtlich, nirgends.
  • 28
    So der BGH, 21.01.2021, 4 StR 83/20, juris Rn. 33 f.
  • 29
    Ob sich das in allen Einzelheiten genauso zugetragen hat, wie von der Staatsanwaltschaft dargestellt, kann hier dahingestellt bleiben.
  • 30
    S. o. Abschnitt 2.
  • 31
    Soweit ersichtlich, gibt es einen einzigen veröffentlichten Fall einer Rechtsbeugung durch einen Richter wegen Unterlassens einer Selbstablehnung (LG Freiburg, 03.03.2009, 2 KLs 210 Js 4263/08, BeckRS 2009, 29798; BGH, 13.08.2009, 1 StR 366/09, juris). Hier hatte ein Richter als Freundschaftsdienst für einen Bekannten in einem Zivilverfahren mehrere Schriftsätze, einen Befangenheitsantrag gegen den für das Zivilverfahren zuständigen Richter und nach Ablehnung desselben auch die Beschwerdeschrift dagegen verfasst. Als die Beschwerde in seinem Dezernat beim Landgericht landete (was nach der Geschäftsverteilung nicht vorherzusehen war), zeigte er seine vorangegangene (anonyme) Tätigkeit nicht an, sondern entschied in der Sache und gab der Beschwerde statt.
  • 32
    BGH, 12.04.2016, VI ZR 549/14, juris Rn. 8; openJur Rn. 11.
  • 33
    Hätte die Staatsanwaltschaft sich inhaltlich mit den Gutachten auseinandergesetzt, wäre sie auch auf die Frage gestoßen, warum eigentlich die Landesregierung, die doch die Maßnahmen angeordnet und zu verantworten hatte, keine wissenschaftlichen Gutachten zur Frage der Wirksamkeit einer Maskenpflicht in der Schule und zu den mit ihr verbundenen physischen und psychischen Gefährdungen und Belastungen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eingeholt hat.
  • 34
    Dies unterscheidet den Beschluss maßgeblich von dem Beschluss des Amtsgerichts Weilheim vom 13.04.2021, 2 F 192/21, juris und openJur. In dem Weilheimer Fall waren ebenfalls Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung gestellt worden. Die Staatsanwaltschaft München II hat deshalb Vorermittlungen geführt, diese dann aber mangels Anfangsverdachtes bereits im Juli 2021 eingestellt, wobei sie sich auch auf die bereits erwähnte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.06.2021, 6 AV 1.21, berief. Auch von dieser Entscheidung einer anderen Staatsanwaltschaft hat sich die Staatsanwaltschaft Erfurt offensichtlich nicht beirren lassen.
  • 35
    Für ein Versehen spricht auch die äußerst lapidare Begründung der Ausweitung des Tenors auf alle Schüler, die nicht erkennen lässt, dass er sich hier über die Grenzen seiner Zuständigkeit Rechenschaft abgelegt hat. Sie besteht aus einem einzigen Satz, es ist der vorletzte der Entscheidung: „Da die Mitschüler der im Tenor namentlich genannten Kinder in gleicher Weise betroffen sind, hat das Gericht seine Entscheidung für diese mit getroffen“ (AG Weimar, 08.04.2021, 9 F 148/21, juris, Rn. 1540, openJur Rn. 1560).
  • 36
    Vgl. BGH, 11.04.2013, 5 StR 261/12; juris, openJur.
  • 37
    Ein Beispiel für einen krassen Fall einer (vorsätzlichen) richterlichen Fehlentscheidung, auch im Zusammenhang mit den Anregungen für Verfahren gem. § 1666 BGB wegen der Maskenpflicht in der Schule, allerdings von der anderen Seite, die dennoch wohl „nur“ als Rechtsprechungsexzess und nicht als Rechtsbeugung zu bewerten ist, schildert Oliver García in: Der Richter und sein Lenker – Von Rechtsbeugung und anderen schrägen Sachen. Hier hatte ein Leipziger Amtsrichter nach Eingang einer Anregung durch die Mutter eines Schulkindes noch am selben Tag einen Hinweisbeschluss (15.04.2021, 335 F 1187/21) erlassen, in dem er mitteilte, er werde ein Verfahren einleiten, aber nicht gegen die Schule, sondern gegen die Mutter, weil die Antragstellung Zweifel an ihrer Erziehungseignung wecke und hatte den Verfahrenswert vorläufig auf 1.400.000,00 € (!) festgesetzt, weil die Anregung schätzungsweise 350 Kinder betreffe (350 × 4000 €). So gegensätzlich die Entscheidungen sind, kann man zur Abgrenzung von Rechtsprechungsexzess und Rechtsbeugung in diesen Fällen folgendes sagen: Es reicht für Rechtsbeugung nicht aus, wenn ein Richter in einem Hinweisbeschluss beim Verfahrenswert eine vollkommen utopische, auch noch rechtlich unmögliche, weil die Höchstgrenze sprengende Zahl (dazu näher García, a. a. O.) hinschreibt, auch dann nicht, wenn damit „ein reines Repressionsziel“ (ebd.) gegenüber einer Rechtssuchenden verfolgt wird. Das ist zwar rechtswidrig, es ist willkürlich und selbstredend empörend, aber am Ende doch nur eine falsche Entscheidung, bei der es am „Beugen“ des Rechts fehlt. Genauso wenig kann es für Rechtsbeugung ausreichen, wenn ein Richter in einem Beschlusstenor den Worten „für diese“ (gemeint sind die beiden Kinder, deren Eltern das Verfahren angeregt hatten) noch die Worte „und alle weiteren an diesen Schulen unterrichteten Kinder und Schüler“ hinzufügt. Das ist, jedenfalls soweit die eigene Zuständigkeit überschritten wird, zwar falsch, aber mit einem aus 10 Wörtern bestehenden falschen Federstrich wird das Recht ebenfalls nicht gebeugt.
  • 38
    Die Norm wurde mit Wirkung ab 01.07.2021 geändert.
  • 39
    MüKoFamFG/Ulrici FamFG § 29 Rn. 12.
  • 40
    Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, § 200 Rn. 56.
  • 41
    Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, a. a. O., Rn. 62; ebenso MüKoStPO/Wenske StPO § 200 Rn. 87: „Die erforderlichen Angaben zur Einlassung des Angeschuldigten sollten eine möglichst umfassende Information der Verfahrensbeteiligten in den Blick nehmen“ und KK-StPO/Schneider StPO § 200 Rn. 21.
  • 42
    VG Weimar, 20.04.2021, 8 E 416/21, juris und openJur.
  • 43
    S. o. Abschnitt 1.
  • 44
    Dort S. 70.
  • 45
    Die Cochrane-Gesellschaft, deren Veröffentlichungen als Goldstandard in der evidenzbasierten Medizin gelten, kommt in einer am 30.01.2023 veröffentlichten Meta-Studie zu dem Ergebnis, dass das Maskentragen epidemiologisch gesehen keinen oder allenfalls einen geringen Effekt hinsichtlich der Ausbreitung von Covid-19 hat.