KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V.

In dubio contra reum?

Erwiderung auf einen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. Mai 2023

Es ist ein paar Jahre her, da berichtete eine hessische Provinzzeitung über ein Strafverfahren gegen einen Mann, der wegen Vergewaltigung vor Gericht gestanden hatte. Das Schöffengericht hatte ihn freigesprochen, weil es die Beweise nicht für hinreichend erachtet hatte, um eine Verurteilung verantworten zu können. Das rief einen Leserbriefschreiber auf den Plan, der sich über den aus seiner Sicht unerträglichen Freispruch sinngemäß wie folgt empörte: Es könne ja vielleicht sein, dass die letzten Beweise fehlten, aber immerhin gehe es ja um Vergewaltigung … da könne man über diesen Schönheitsfehler doch einmal hinwegsehen.

Dieser Empörte verlangte also nichts anderes, als sehenden Auges einen möglicherweise Unschuldigen zu verurteilen. Man mag es kaum glauben.

Nun wird eine Provinzzeitung nicht jeden Leserbrief vor der Veröffentlichung einer Prüfung auf seine geistige Erhellung unterziehen. Jeder hat das Recht, sich nach Belieben in Wort oder Schrift öffentlich zu blamieren, solange er die Gesetze einhält.

Anderes wird man von redaktionellen Beiträgen in einem Medium wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der immerhin ein gewisses Renommee nachgesagt wird, erwarten können. Um so erstaunlicher ist es, dass folgender Artikel eines Journalisten namens Joachim Müller-Jung mit dem Titel 

„Das gefährliche Gift der Schwurbler“

Eingang in den Feuilletonteil vom 25. Mai 2023 finden durfte. Jener Beitrag befasst sich mit dem Gerichtsverfahren gegen den Mikrobiologen Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, den das Amtsgericht Plön am 23. Mai 2023 vom zweifachen Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen hatte. 

Müller-Jung hält diesen Freispruch – wörtlich – für unerträglich. Starker Tobak, die Entscheidung eines unabhängigen Gerichts mit einem solchen Begriff zu belegen. Nun sucht man nach juristischen Argumenten für ein so hartes Verdikt und findet … nichts! 

Der ganze (recht kurze) Artikel besteht aus einer Ansammlung von Kampfbegriffen, mindestens fünfzehn an der Zahl: 

„Verschwörungsfabrikant, geschäftsmäßige und boshafte Wahrheitsverdrehung, Narrenfreiheit, wahnhaft, sektenartig, Querdenkerszene, Falschinformationen, Verleumdungen, schäbiges Geschäftsmodell, irrationale Selbstbezüglichkeit, Fake News, Schwurbler, Hass- und Lügenkampagnen, Verschwörungsorgien, Gift.

Das ist eigentlich auch schon der ganze Inhalt dieses (seinerseits giftsprühenden) Elaborats. Argumente: Fehlanzeige. Natürlich wird auch wieder „die Wissenschaft“ bemüht, aber auch dies wieder nur als Schlagwort.

Man fragt sich ohnehin, was dieser wutschäumende Rundumschlag gegen die coronamaßnahmen­kritische Szene überhaupt mit dem angegriffenen Urteil zu tun hat. Kommt doch noch etwas Fachliches, um die vermeintliche Unerträglichkeit des Urteils juristisch zu belegen? 

In der Tat: Ein kleiner, ins Rechtliche führender Ansatz findet sich dann doch: Der Richter habe die „antisemitischen Einlassungen“ Bhakdis „mildernd nicht auf die Juden bezogen“. 

Von einem Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung muss man vielleicht nicht unbedingt Fachwissen verlangen, wenn er sich über Gerichtsentscheidungen auslässt. Hier ist tatsächlich auch keines erkennbar. Mit der soeben zitierten Passage beweist Müller-Jung vielmehr, dass er – im besten Fall – nichts verstanden hat. Es geht nämlich rechtlich überhaupt nicht um eine „mildernde“ Betrachtung. 

Es geht um nichts Geringeres als um den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“. Um ein Prinzip mit Verfassungsrang, das seine Wurzeln in Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes und in Art. 6 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention hat. 

An diesen Pfeiler des Rechtsstaats legt Müller-Jung die Axt an. Er schiebt (bewusst oder aus Unvermögen) den Umstand beiseite, dass hier ein Amtsrichter schlicht seine Hausaufgaben gemacht hat und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kennt: Wenn eine Äußerung unterschiedliche Deutungen zulässt, ist strafrechtlich im Zweifel von der für den Angeklagten günstigeren Variante auszugehen. Auf diese Rechtsprechung, die übrigens auch einer völlig verrannten Generalstaatsanwaltschaft Schleswig fremd zu sein scheint, wurde im Übrigen an dieser Stelle schon früher hingewiesen.

Das Amtsgericht Plön hat nichts anderes getan, als die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen. Es hat seiner Entscheidung im Zweifel zugunsten Bhakdis die nicht strafbare Interpretation seiner Äußerungen zugrunde gelegt. 

In dubio pro reo eben. Die neutrale und unaufgeregte Anwendung juristischen Handwerkszeugs. Urteilen ohne Ansehung der Person, wie es dem richterlichen Diensteid entspricht.

Müller-Jung findet das unerträglich. Damit stellt er sich auf eine Stufe mit dem eingangs erwähnten schlicht denkenden Leserbriefschreiber. Er wünscht sich eine Justitia ohne Augenbinde.

Seine Botschaft lautet: „Wenn es um Antisemitismus geht, kann man ruhig auch mal einen Unschuldigen verurteilen.“  In dubio contra reum. Jedenfalls, wenn ein Schwurbler auf der Anklagebank sitzt.

Mehr muss über den Journalisten Joachim Müller-Jung und sein Verständnis vom Rechtsstaat und dessen Verfassung nicht gesagt werden.