KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V.

Verfassungswidrigkeit des Brandenburgischen kommunalen Notlagegesetzes

Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg mit Sitz in Potsdam hat bereits mit Beschluss vom 17. Februar 2023 den § 2 des Brandenburgischen kommunalen Notlagegesetzes (BbgKomNotG) für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 4 und Art. 80 Satz 2 der Verfassung des Landes Brandenburg erklärt (Az.: VfGBbg 10/21).1Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluss vom 17.02.2023 – VfGBbg 10/21. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmefällen wurde über diese bedeutsame Entscheidung in der deutschen Medien- und Presselandschaft kaum berichtet. Auch hierdurch verfestigt sich das Bild, dass an einer ehrlichen und nachhaltigen Aufarbeitung des verfassungsrechtlichen Versagens im Rahmen der Corona-Krise kaum Interesse besteht.

Auszüge aus der offiziellen Pressemittelung2Vollständige offizielle Pressemitteilung des VfGBbg 10/21. des Verfassungsgerichts lauten wie folgt:

„Der Landtag Brandenburg hatte […] den Minister des Innern und für Kommunales gesetzlich ermächtigt, durch Erlass einer Rechtsverordnung Abweichungen von einer Vielzahl von Regelungen der Kommunalverfassung des Landes Brandenburg (BbgKVerf) durch die Kommunen zuzulassen. Damit sollten kommunale Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten unter den Bedingungen der SARS-CoV-2-Pandemie gewährleistet werden. Die dem Minister möglichen Regelungen betrafen unter anderem die Übertragungsmöglichkeit von durch die BbgKVerf der Gemeindevertretung in ausschließlicher Zuständigkeit zugewiesenen Entscheidungsbefugnissen auf den Hauptausschuss, haushaltsrechtliche Vorgaben, den Ablauf von Sitzungen der Kommunalvertretung (z.B. Video- und Telefonkonferenzen), die Möglichkeit, Entscheidungen im schriftlichen Umlaufverfahren zu treffen, und die Verschiebung bereits angesetzter Kommunalwahlen. Die Vorschrift trat am 16. April 2020 in Kraft und sollte zunächst bis zum 30. September 2020 gelten, wurde aber bis zum 30. Juni 2021 verlängert.

Mit ihrem Normenkontrollantrag haben 23 Mitglieder des Landtags Brandenburg, die der AfD-Fraktion angehören, das BbgKomNotG im Februar 2021 zur Überprüfung gestellt. Das [Landesverfassungsgericht] hat nunmehr einen Verstoß gegen die [Landesverfassung] festgestellt. Der Gesetzgeber habe mit der Regelung des § 2 BbgKomNotG eine Ermächtigung zum Erlass gesetzesändernder Verordnungen erteilt. Für eine solche „gesetzesändernde“ Verordnung ergäben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 2 Abs. 4 LV) Grenzen. Dies gelte insbesondere bei Ausformung der Grundprinzipien des demokratischen Gemeinwesens auch für die kommunale Ebene, die grundsätzlich ein Handeln des Parlamentsgesetzgebers erfordere. § 2 BbgKomNotG habe dem Verordnungsgeber die Möglichkeit eröffnet, durch freie Entscheidung über das (auch kumulativ mögliche) Außerkraftsetzen wesentlicher Vorschriften der Kommunalverfassung weitreichende Veränderungen des gesetzlich ausgeformten Bilds kommunaler Selbstverwaltung zu bewirken. Dies habe zu einer nicht mehr mit der [Landesverfassung] zu vereinbarenden Gewichtsverschiebung zwischen gesetzgebender und exekutiver Gewalt geführt. Der Gesetzgeber hätte den Umfang und die Voraussetzungen der Abweichungsmöglichkeiten dem Verordnungsgeber in einer Art Handlungsprogramm vorgeben müssen. Mit der umfangreichen Übertragung der Befugnis auf den Verordnungsgeber, die Anwendung gesetzlicher Regelungen der BbgKVerf außer Kraft zu setzen, habe der Gesetzgeber zudem nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 Satz 2 LV genügt, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung in der gesetzlichen Regelung bestimmt sein müssen.

[…].“

Parallelen zur Verfassungswidrigkeit des § 5 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz

Ungeachtet des kommunalen Kontextes drängen sich die Parallelen zur Frage der Verfassungswidrigkeit des (bundesdeutschen) § 5 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz im Hinblick auf die Missachtung des Parlamentsvorbehalts, des Bestimmtheitsgrundsatzes und der Gewaltenteilung auf. § 5 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz wird im Schrifttumwohl weit überwiegend für verfassungswidrig gehalten, teils mit ungewöhnlich deutlichen Formulierungen (z.B. „verfassungswidrige Selbstentmächtigung des Gesetzgebers“, „Blankovollmacht“, „Systemverschiebung“, „letztlich uferlos“, „Diese verfassungsrechtlich fundierte Normenhierarchie sieht sich […] auf den Kopf gestellt.“).3Vgl. zum Ganzen Kießling/Hollo, 3. Aufl. 2022, IfSG § 5 Rn. 24 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Trotz des Umstandes, dass die möglichen Ausnahmen eine unüberschaubare Zahl an gesetzlichen Vorschriften in insgesamt fünf Gesetzen betreffen4So sogar das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, WD 3 – 3000 – 080/20, S. 6.– es sollen mehr als 1.000 Paragrafen betroffen sein5BeckOK InfSchR/Gausing, 15. Ed. 10.1.2023, IfSG § 5 Rn. 25.–, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hierzu bislang – soweit ersichtlich – geschwiegen. Möglichkeiten hätte es mehr als ausreichend gehabt, so z.B. auch anhand der Verfassungsbeschwerde von Schleiter aus Dezember 2020.6Siehe hierzu Verfassungsbeschwerde Dr. Pieter Schleiter. Das Bundesverfassungsgericht hat diese im April 2021 unter Verweis auf den nicht ausgeschöpften Rechtsweg entgegen der eigenen ständigen Rechtsprechung ohne weitere Begründung nicht zur Entscheidung angenommen. Die daraufhin erhobene Gegenvorstellung verbunden mit einer Anhörungsrüge führte mehrere einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf, von denen es mit seiner Nichtannahme nunmehr abgewichen sein dürfte, jedenfalls, soweit straf- und bußgeldbewehrte Normen betroffen waren. Erstaunlich: Gegenvorstellung und Anhörungsrüge blieben ohne förmliche Entscheidung – alles ohne weitere inhaltliche Begründung. Es bleibt also das Geheimnis des Bundesverfassungsgerichts, warum genau es die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat und warum es (mutmaßlich) von seiner eigenen ständigen Rechtsprechung abgewichen ist – und das auch noch ohne jedwede Begründung. Transparente Rechtsprechung und Befriedung unter Rechtsuchenden sieht anders aus. Dabei hätte es selbst bei dieser (wohl verfehlten) Sichtweise fakultativ die Möglichkeit gehabt, trotz des nicht ausgeschöpften Rechtsweges sofort zu entscheiden, insbesondere, weil die problematischen Fragen offenkundig von allgemeiner Bedeutung waren und noch immer sind (vgl. § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG).

Vermeidehaltung des Bundesverfassungsgerichts und die Frage der richterlichen Unabhängigkeit bei politischer Ernennung?

Insgesamt scheint es, als wolle das höchste deutsche Gericht auch bei § 5 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz einer Entscheidung aus dem Weg gehen, mit der es das Parlament angesichts seiner eigenen gefestigten Rechtsprechung überdeutlich in die Schranken weisen müsste.

Erneut stellen sich die Fragen: Wie politisch agiert das Bundesverfassungsgericht? In welchem Maße wirkt die vom Grundgesetz und vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz so nicht vorgesehene Entsendung der Verfassungsrichter nach Parteienproporz einer wirklich unabhängigen Entscheidung entgegen? Wie stark fühlt sich ein Richter gehalten, nicht gegen ein Gesetz zu stimmen, das seine ihn auswählende Fraktion mit verabschiedet oder gar entworfen hat? Welche Erwartungen an ihn möchte er nicht enttäuschen? Inwieweit wirkt die alte Volksweisheit: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“? Wäre es förderlich, zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit das Ernennungsverfahren parteipolitisch zu entkoppeln und auf anderem Wege grundgesetzkonform eine demokratische Legitimation der Verfassungsrichter herzustellen?


Endnoten

  • 1
  • 2
  • 3
    Vgl. zum Ganzen Kießling/Hollo, 3. Aufl. 2022, IfSG § 5 Rn. 24 mit zahlreichen weiteren Nachweisen.
  • 4
    So sogar das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, WD 3 – 3000 – 080/20, S. 6.
  • 5
    BeckOK InfSchR/Gausing, 15. Ed. 10.1.2023, IfSG § 5 Rn. 25.
  • 6
    Siehe hierzu Verfassungsbeschwerde Dr. Pieter Schleiter. Das Bundesverfassungsgericht hat diese im April 2021 unter Verweis auf den nicht ausgeschöpften Rechtsweg entgegen der eigenen ständigen Rechtsprechung ohne weitere Begründung nicht zur Entscheidung angenommen. Die daraufhin erhobene Gegenvorstellung verbunden mit einer Anhörungsrüge führte mehrere einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf, von denen es mit seiner Nichtannahme nunmehr abgewichen sein dürfte, jedenfalls, soweit straf- und bußgeldbewehrte Normen betroffen waren. Erstaunlich: Gegenvorstellung und Anhörungsrüge blieben ohne förmliche Entscheidung – alles ohne weitere inhaltliche Begründung. Es bleibt also das Geheimnis des Bundesverfassungsgerichts, warum genau es die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat und warum es (mutmaßlich) von seiner eigenen ständigen Rechtsprechung abgewichen ist – und das auch noch ohne jedwede Begründung. Transparente Rechtsprechung und Befriedung unter Rechtsuchenden sieht anders aus. Dabei hätte es selbst bei dieser (wohl verfehlten) Sichtweise fakultativ die Möglichkeit gehabt, trotz des nicht ausgeschöpften Rechtsweges sofort zu entscheiden, insbesondere, weil die problematischen Fragen offenkundig von allgemeiner Bedeutung waren und noch immer sind (vgl. § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG).