KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V.

Wer die Corona-Politik kritisiert, ist rechts, oder: Warum Joachim Wagner nicht versteht, dass es maßnahmenkritische Juristen gibt

Right and left shoes.

Von Matthias Guericke1Dies ist ein Artikel in eigener Sache. Eigene Sache heißt in erster Linie die des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte n. e. V., in zweiter Linie die des Autors und seines Kollegen Christian Dettmar. KRiStA und seine Mitglieder sind geduldig und reagieren keineswegs auf jeden öffentlichen Angriff. Die nicht nur unsachlichen, sondern diffamierenden, gezielt rufschädigenden Angriffe des Journalisten Joachim Wagner gegen die drei Genannten, die mit der Veröffentlichung seines Buches „Rechte Richter“ im September 2021 begonnen haben und bis heute andauern, zuletzt mit einem Artikel in der taz vom 31.01.2023, verlangen aber eine erneute (s. bereits hier) Auseinandersetzung mit Wagner.

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum

(Ernst Jandl)

Der „Kampf gegen rechts“2Der Autor hat in der Corona-Krise gelernt, dass Missverständnisse bei einem Text unvermeidbar sind, wenn sie vom Leser gewollt werden. Dennoch wird an dieser Stelle versichert, dass der Autor (selbstverständlich!) Rechtsextremismus entschieden ablehnt, Linksextremismus ebenso. wird von seinen Verfechtern als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben apostrophiert. Eine Vielzahl von Initiativen und Vereinen haben sich ihm verschrieben und der Bund stellt dafür im Zeitraum von 2021 bis 2024 nicht weniger als 1,1 Milliarden (!) Euro zur Verfügung. Kritische Stimmen geben zu bedenken, dass die Gefahr, die der Rechtsextremismus für die Demokratie in Deutschland tatsächlich darstellt, dabei überzeichnet werde und dass begrifflich nicht zufällig aus dem „Kampf gegen Rechtsextremismus“ ein „Kampf gegen rechts“ geworden sei.3Die Ausrufung eines „Kampfs gegen links“ hätte zweifelsohne empörte Reaktionen zur Folge, während Konservative damit leben müssen, dass zwischen Rechtsextremismus und „rechts“ begrifflich nicht mehr unterschieden wird. Die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder hat dazu bemerkt, dass der „Kampf gegen rechts“ wörtlich zu nehmen sei: Politische Überzeugungen, die nicht links sind, sollen als illegitim im demokratischen Diskurs gebrandmarkt werden. Für die im „Kampf gegen rechts“ Engagierten geht es nicht selten auch um moralische Selbstüberhöhung und Identitätsbildung: Wer hier aktiv ist, weiß immer, dass er auf der richtigen Seite steht, auch wenn er noch nicht weiß, wofür er eigentlich positiv steht. Identitätsbildung durch Abgrenzung. Und schließlich kann in einer unübersichtlich gewordenen Welt der „Kampf gegen rechts“ auch Komplexität reduzieren und damit Orientierung verschaffen. Komplexität wird reduziert, wenn unbequeme Meinungen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht verstanden und integriert werden können, als „rechts“ abgestempelt werden. Wer als „rechts“ abgestempelt ist, mit dem muss man sich inhaltlich nicht mehr auseinandersetzen. Es reicht aus, (vermeintliche) Argumente für die Rechtfertigung des Stempels zusammenzutragen.

Joachim Wagners Sorge um den Rechtsstaat – auch ein Geschäftsmodell

Joachim Wagner (geb. 1943) hat in den 1960er Jahren Jura studiert und nach der Promotion einige Jahre an der Freien Universität Berlin4Im Wikipedia-Artikel über Wagner und im Klappentext des Buches „Rechte Richter“ ist zu lesen, dass er als Assistenzprofessor gearbeitet habe. Den Titel „Assistenzprofessor“ (engl. assistant professor) gibt es in Deutschland allerdings nicht, am ehesten kommt ihm der „Juniorprofessor“ (eine Professur ohne Habilitation) nahe, den es aber erst seit 2002 gibt. Die korrekte Bezeichnung für Wagners Stelle an der FU Berlin dürfte daher „wissenschaftlicher Assistent“ lauten. gearbeitet, bevor er 1979 in den Journalismus wechselte. Bekannt wurde er als Moderator des Politmagazins Panorama. 1997 wurde er Leiter des ARD-Studios in London, ab 2002 arbeitete er im ARD-Hauptstadtstudio, wo er im Wechsel mit Ulrich Deppendorf die Sendung Bericht aus Berlin moderierte. Seit seinem Eintritt in den Ruhestand 2008 veröffentlichte er eine Reihe von Büchern, vor allem zu Rechtsthemen, etwa „Vorsicht Rechtsanwalt! – Ein Berufsstand zwischen Mammon und Moral“ (2014) und „Ende der Wahrheitssuche – Justiz zwischen Macht und Ohnmacht“ (2017).

2020/21 hat Wagner das für ihn vorerst ultimative Thema gefunden: Justiz und der „Kampf gegen rechts“. Daraus entstanden ist das Buch „Rechte Richter“ (Berliner Wissenschafts-Verlag 2021). Untertitel: „AfD-Richter, -Staatsanwälte und -Schöffen: eine Gefahr für den Rechtsstaat?“ Das Buch erreichte zwar kein Massenpublikum, erhielt aber medial einige Aufmerksamkeit. Der Deutschlandfunk rezensierte es ebenso wie die Süddeutsche Zeitung und Legal Tribune Online, es gab ein Interview in der taz und eines in Deutschlandfunk Kultur und Wagner wurde zur Bundesmitgliederversammlung der Neuen Richtervereinigung als Referent eingeladen. Und da „rechts“ immer etwas passiert und manche Geschichte eines „rechten Richters“, über die Wagner geschrieben hatte, eine Fortsetzung erfuhr, arbeitete Wagner gleich an der zweiten Auflage, die im Dezember 2022 erschien und mit der der Umfang des Buches von 194 auf 288 Seiten anwuchs. Zuvor hatte noch die Bundeszentrale für politische Bildung die erste Auflage in ihre Schriftenreihe aufgenommen.

Kein Begriff von „rechts“

Anders als der Untertitel5Die Bezeichnung „AfD-Richter“ ist genau genommen auch schon polemisch, unterstellt sie doch, dass ein Richter, der Mitglied der AfD ist, sich in seiner Arbeit (z. B. als Zivil-, Arbeits- oder Finanzrichter) maßgeblich, jedenfalls stärker als Richter, die Mitglied einer anderen Partei sind, von seinen politischen Überzeugungen bestimmen lässt. Einen Richter, der Mitglied der SPD ist, als „SPD-Richter“ zu bezeichnen, würde als abschätzig betrachtet werden. ankündigt, beschäftigt sich Wagner in seinem Buch keineswegs nur mit Richtern, die Mitglied der AfD sind oder offen mit ihr sympathisieren. Es geht auch um Richter und Staatsanwälte, die (seiner Meinung nach) bei Strafverfahren gegen Rechtsextreme zu nachgiebig gewesen seien, insbesondere rechtsextreme Tatmotive bei der Strafzumessung nicht oder nicht ausreichend gewürdigt hätten,6Als Beispiel dafür wird der sog. Ballstädt-Prozess am Landgericht Erfurt angeführt. Da Wagner die betreffenden Richter selbst nicht als „rechts“ klassifiziert, sind Titel und Untertitel des Buches schon aus diesem Grunde irreführend, aber auf den reißerischen Titel wollte er offensichtlich nicht verzichten. und um Richter, die bei der strafrechtlichen Bewertung von Wahlkampfplakaten rechtsextremistischer Parteien Volksverhetzung (§ 130 StGB) verneint haben. Desweiteren – und darauf wird sich dieser Beitrag konzentrieren – geht es um Richter, die in der Corona-Krise maßnahmenkritische Entscheidungen getroffen haben oder sich in anderer Weise kritisch zu den Grundrechtseinschränkungen geäußert haben, also nicht nur, aber vor allem die Mitglieder von KRiStA.

„‘An der Grenze zur Rechtsbeugung‘: Anti-Corona-Richter verharmlosen Pandemie“ ist das Kapitel überschrieben, in dem sich Wagner auf fast 40 Seiten mit maßnahmenkritischen Richtern beschäftigt (S. 95-1317Sämtliche Seitenangaben im Text beziehen sich auf Joachim Wagner, Rechte Richter, 2. Aufl., Berlin 2023 (im Impressum ist 2023 angegeben, das Buch erschien aber bereits im Dezember 2022).). Unterkapitel: „Amtsrichter mit politischer Agenda: Weimar, Weilheim, Meiningen“ und „Corona-Rebellen in Robe: das Netzwerk Kritischer Richter und Staatsanwälte“. Wie sich schon an diesen Überschriften zeigt, bedient sich Wagner einer durchweg polemischen, manipulativen und die Abwertung von anderen bereits in ihrer Bezeichnung vorwegnehmenden Sprache. Dies spiegelt allerdings nur die in der Corona-Krise stattgehabte Sprachverrohung wider, gerade auf der Seite derjenigen, die die Corona-Politik unterstützt haben. Was früher der Boulevardpresse vorbehalten war, ist in der Corona-Krise zur Sprache der gesellschaftlichen Mitte geworden. Wagner, dessen Selbstbild zweifelsohne das eines gebildeten, kultivierten und distinguierten älteren Herrn ist, hat jedenfalls mit dieser Sprachverrohung kein Problem.8Sprachsensibel wird er aber bei den Aufsätzen auf der Webseite von KRiStA. Hier will er festgestellt haben, dass sie „im Ton aggressiv bis polemisch“ seien (S. 124). Die Sprache der Abwertung wird offenbar benötigt, um die Maßnahmenkritiker ins diskursive Abseits zu stellen.9Sprachlogik ist für Wagner im Übrigen auch nicht wichtig: „Anti-Corona-Maßnahmen“ (so heißt es bei ihm durchgehend, nicht: „Corona-Maßnahmen“) und „Anti-Corona-Politik“ sind gut, „Anti-Corona-Richter“ sind dagegen schlecht.

Fragt man, warum der Autor und die anderen, namentlich genannten Richter, die die Corona-Maßnahmen kritisch bewertet haben, „rechts“ sein sollen, erhält man keine Antwort. Nirgends legt Wagner Rechenschaft über seinen Begriff von „rechts“ ab. Er schreibt auf zwölf Seiten über den Beschluss des Amtsgerichts Weimar vom 08.04.2021 zur Maskenpflicht in der Schule, auf fünf Seiten über den Autor und das Urteil des Amtsgerichts Weimar vom 11.01.2021 sowie auf vier Seiten über einen Beschluss eines Meininger Richters. Was an diesen Entscheidungen „rechts“ sein soll, erklärt Wagner dem Leser aber nicht. Wer die Corona-Maßnahmen aus verfassungsrechtlicher Perspektive kritisiert, ist offensichtlich per se „rechts“, ohne dass dies einer Begründung bedarf.10Zur Klarstellung noch folgender Hinweis: KRiStA ist parteipolitisch neutral. Unter den Mitgliedern finden sich solche mit eher linken politischen Positionen, andere, die sich eher der politischen Mitte zurechnen, und wieder andere mit eher konservativen Positionen, die vor der bereits benannten Bedeutungsverschiebung unproblematisch als „rechts“ bezeichnet werden konnten. (Wobei auch nicht übersehen werden darf, dass, was „rechts“ und was „links“ ist, keineswegs mehr so klar ist wie noch vor 20 oder 30 Jahren.) Es geht in diesem Artikel daher nicht darum, sich dagegen zu verwahren, mit konservativen Positionen in Verbindung gebracht zu werden, sondern allein darum, dass KRiStA und seine Mitglieder in dem Sinne als „rechts“ etikettiert werden, dass sie illegitime politische Positionen vertreten würden. In dem bereits erwähnten Artikel in der taz vom 31.01.2023 räumt Wagner ein, dass „drei Entscheidungen der Amtsgerichte Weimar und Weilheim, die die Maskenpflicht in der Schule für verfassungswidrig … erklärt haben“ „ideologisch schwer einzuordnen“ seien (dabei wirft er – nicht zum ersten Mal11In einem Artikel in der Sächsischen Zeitung vom 18.10.2021 schreibt Wagner von zwei Urteilen zur Maskenpflicht in der Schule aus Weimar, es war allerdings nur eine Entscheidung und diese war ein Beschluss. Der Autor dieses Textes hat in dem Artikel den Vornamen Christian. Im Interview der taz vom selben Tag spricht er von drei Urteilen zur Maskenpflicht aus Weimar und Weilheim, im nächsten Satz sind es dann wieder Beschlüsse. Dass Wagner Urteil und Beschluss nicht auseinanderhalten kann, sagt durchaus etwas über seine juristische Kompetenz. Und so geht es munter durcheinander. Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek heißt bei ihm Christian Murswiek (S. 107), ein Erfurter Ermittlungsrichter heißt zweimal Wildenauer und zweimal Wildenau usw. usf. – die Dinge durcheinander: es gab nur zwei solche Entscheidungen; der Autor hat nie über die Maskenpflicht in der Schule entschieden). Auf die Ideologie kommt es offenbar an und obwohl Wagner bei der „ideologischen Einordnung“ unsicher ist, weiß er in dem taz-Artikel doch gleichzeitig, dass die entscheidenden Richter von dem „Virus“ einer „Mischszene aus Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Querdenkern“ infiziert wurden. Es gilt also: im Zweifel „rechts“ und wichtig ist, dass einem nie die griffigen Schlagworte ausgehen.

Wer „Grundrechte“ sagt, ist verdächtig

Im Abschnitt über KRiStA versucht Wagner, anders als in den Abschnitten über die einzelnen maßnahmenkritischen Richter, eine Begründung, warum KRiStA „rechts“ sein soll. Auch hier werden aber nicht die Satzung des Vereins oder die auf der Webseite von KRiStA präsentierten Inhalte anhand eines klar definierten Begriffs von „rechts“ untersucht – Wagner hat keine klaren Begriffe –, sondern es werden Aussagen von KRiStA mit Aussagen der AfD verglichen, um daraus Schlüsse auf eine angebliche politische Position von KRiStA zu ziehen. Das ist ein äußerst problematisches Verfahren und kann grundsätzlich die begriffliche Arbeit nicht ersetzen. Denn wenn die AfD sagt, dass 2 + 2 = 4 ist, dann ist das weder „rechts“ noch wird es dadurch, dass es die AfD sagt, falsch, und niemand, der dasselbe sagt, ist deshalb „rechts“. Wagner will aber genau so den Beweis führen: Die Aussage von KRiStA „Wir fordern eine faktenbasierte, offene, pluralistische Diskussion juristischer Fragestellungen der Corona-Krise“ könnte nach Wagner „auch in einem Programm der Rechtspopulisten stehen, die gern für sich in Anspruch nehmen, ihre Meinungen auf die ‚richtigen Fakten‘ zu stützen.“ Und weiter: „Dass das Netzwerk ‚besonders für Rechtsstaatlichkeit‘ eintritt und ‚wirkliche Unabhängigkeit‘ fordert, unterstellt, dass es zwischen den verfassungsrechtlichen Ansprüchen des Grundgesetzes und dem rechtsstaatlichen Alltag während der Pandemie eine besorgniserregende Diskrepanz gibt. Diese gesellschaftliche und rechtliche Diagnose ähnelt dem Anspruch der AfD.“ (S. 123) Auch dass KRiStA im Gründungsaufruf zu einer „vollständigen Wiederherstellung der Grundrechte und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Handeln des Staates“ aufgerufen hat, soll seine politische Nähe zur AfD beweisen. Und nicht zu vergessen: Wer Corona-Maßnahmen kritisiert, tut dasselbe wie die AfD.

Zusammengefasst und allenfalls unwesentlich zugespitzt: Wer „Grundrechte“ und „Verhältnismäßigkeit“ sagt, eine faktenbasierte und offene Diskussion fordert und behauptet oder auch nur unterstellt, dass in der Corona-Krise in rechtstaatlicher Hinsicht nicht alles zum Besten bestellt war, sagt dasselbe wie die AfD, ist damit rechts und kein legitimer Diskursteilnehmer mehr. Meint Joachim Wagner. Man fragt sich, ob ihm eigentlich bewusst ist, was er da schreibt. Und wen er außer KRiStA noch alles in die „rechte Ecke“ stellen müsste, wenn das die Kriterien sein sollen.12Natürlich würde er nicht auf die Idee kommen, Wolfgang Kubicki, Hans-Jürgen Papier oder Oliver Lepsius, um nur beispielhaft drei Namen zu nennen, als „rechts“ zu etikettieren. Das zeigt aber nur umso deutlicher, wie absurd seine „Beweisführung“ ist und vor allem, wie inkonsistent sein Denken. Im strengen Sinne kann man es gar nicht „Denken“ nennen, weil Wagner keine Begriffe hat bzw. seine Begriffe leer sind und seine Anschauung blind. Wagner will Wirklichkeit, die er nie versucht hat unvoreingenommen wahrzunehmen, weshalb er nur das sieht, was er schon vorher wusste, unter leere Begriffe („rechts“, „Querdenker“ etc.) fassen. Das kann zu keiner echten Erkenntnis führen.

An die Angemessenheit der Corona-Politik muss man einfach glauben

Alles spricht dafür, dass Wagner die Absurdität seiner „Beweisführung“ vollkommen entgeht. KRiStA und seine Mitglieder als „rechts“ zu etikettieren, ist sein Versuch, die Tatsache, dass es maßnahmenkritische Juristen gibt, in sein Weltbild zu integrieren.13Wie eingangs schon festgehalten: Komplexitätsreduktion durch Labelling und Ausschließung. Er kann nicht verstehen, dass es maßnahmenkritische Juristen überhaupt gibt, denn dass die Corona-Politik richtig war, und zwar so richtig, dass jede Kritik daran im Grunde illegitim ist, ist für Wagner gesetzt. Diese Überzeugung beruht nicht auf eigener kritischer Auseinandersetzung mit der Sache, es ist blinde Gefolgschaft gegenüber der Mehrheit und der politischen Macht. Diese Gefolgschaft darf sich ihre Blindheit aber wegen des gleichzeitig erhobenen Anspruchs auf Rationalität, ja, Wissenschaftlichkeit natürlich niemals eingestehen. Wenn ARD und ZDF und die ZEIT und die Süddeutsche und die Bundeskanzlerin und der Präsident des RKI und der Gesundheitsminister und die Leopoldina und Christian Drosten und auch noch Viola Priesemann sagen, dass ein Lockdown unbedingt erforderlich ist, dann ist das die Wahrheit, und jeder, der noch Fragen stellt, kann nur irregeleitet oder nicht ganz bei Verstand sein. Und wenn dann noch die überwältigende Mehrheit der Gerichte in Eilverfahren „bei summarischer Prüfung“ und unter Berücksichtigung des „Einschätzungsspielraums des Verordnungsgebers“ und mit leicht zugekniffenen Augen erklärt, dass die Maßnahmen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden seien, und auch das Bundesverfassungsgericht sie billigt, dann beweist das für Wagner, dass der Rechtsstaat funktioniert. Als Lothar Wieler am 28.07.2020 der Bevölkerung mitteilte, dass die Coronaregeln „überhaupt nie hinterfragt werden“ dürfen,14Angesichts dieses bundesoberbehördlichen Denkverbots, das für viele, die in der Bundesrepublik aufgewachsen waren, etwas völlig Neues war, konnte sich, wer noch in der DDR gelebt hatte, an das Lied von der Partei, die immer recht hat, erinnert fühlen. rannte er bei Joachim Wagner offene Türen ein: Wagner hatte nie vor, die Regeln zu hinterfragen.

Und so liest man dann: „Die beunruhigende Schlüsselfrage für die Zukunft der Justiz und des Rechtsstaates lautet: Wie kann es passieren, dass das Bundesverfassungsgericht und ‚90 Prozent der Gerichtsurteile‘ … die Grundrechtseinschränkungen der staatlichen Corona-Schutz-Maßnahmen als verfassungsgemäß einstufen, ein Netzwerk von 40 bis 60 Robenträgern15Dieser Begriff, den Wagner geschätzt mindestens 50-mal in seinem Buch verwendet, ist auch Teil der Sprache der Abwertung, die Wagner unproblematisch findet. aber beharrlich das Gegenteil vertritt.“ (S. 129)

Was Wagner hier offenbart, ist im Grunde totalitäres Denken: Es darf einfach nicht sein, dass „40 bis 60“16Es ist sicher keine gewagte Spekulation zu behaupten, dass es noch wesentlich mehr maßnahmenkritische Richter gab und gibt, bei denen das aber nicht öffentlich wurde. Richter in der Bundesrepublik Deutschland Corona-Maßnahmen als verfassungswidrig beurteilen. Dass es diese Richter gibt, stellt für ihn sogar die Zukunft des Rechtsstaats in Frage. Man möchte lachen, aber er meint es ernst. Der Grund dafür, dass ihn „40 bis 60“ Richter mit abweichender Meinung in so tiefe Beunruhigung versetzen, ist natürlich, dass auch Wagner letztlich weiß, dass die Mehrheit in der Demokratie zwar entscheidet, aber keineswegs recht haben muss. Und wenn die eigene Position nur blinde Gefolgschaft gegenüber der Mehrheit ist, kann man nie wissen, ob die Minderheit nicht doch recht hat. Nur der Konsens aller könnte von den Zweifeln befreien, und wenn dieser Konsens nicht erzwungen werden kann, bleibt nur die Exklusion der Minderheit.

Auf die Argumente der Kritiker darf man sich gar nicht einlassen

Man kann an dieser Stelle die Beschäftigung mit Joachim Wagner abbrechen. Insbesondere lohnt nicht die Auseinandersetzung mit seinen „Analysen“ der coronamaßnahmenkritischen gerichtlichen Entscheidungen. Wagner hat nie versucht, die Argumentation des Urteils des Amtsgerichts Weimar vom 11.01.2021 nachzuvollziehen. Auch die Beiträge auf der Webseite von KRiStA hat Wagner nie versucht, unvoreingenommen zu lesen und zu analysieren. Er will keine Argumente hören und prüfen, er will sich auch nicht mit den für die Corona-Politik relevanten natur- und sozialwissenschaftlichen Fragen beschäftigen. Er will nur bestätigt haben, dass man sich mit den Argumenten dieser Minderheit nicht auseinandersetzen muss, dass die Ausschließung zu Recht erfolgt ist. Dafür reicht es aus, wenn ihm mutmaßliche Autoritäten (Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte, Professoren, pensionierte Richter, die Neue Richtervereinigung, aber auch Staatsanwaltschaften) bestätigen, dass die betreffenden Entscheidungen fehlerhaft sind und man sie nicht ernstnehmen muss. Diese Stimmen werden umfassend zitiert und müssen Wagner das eigene Urteil ersetzen, wie bei der Corona-Politik die Faktizität der Mehrheit. Dass auch seine Autoritäten von demselben Bedürfnis nach Abgrenzung von den „Corona-Verharmlosern“ (mit-)bestimmt sein könnten wie er selbst, um in dem scharfen gesellschaftlichen Dualismus, den die keinen Widerspruch duldende Coronapolitik aufgerissen hat, ja nicht auf der falschen Seite zu landen, kann Wagner natürlich nicht ahnen. Für ihn sagen sie alle nur die objektive, von subjektiven Interessen unbeeinflusste Wahrheit.

Da sich über KRiStA bisher kaum „Autoritäten“ geäußert haben, muss Wagner hier auf drei, wegen einer inhaltlichen Kontroverse zur Covid-Impfung in der Konsolidierungsphase des Vereins ausgetretene Mitglieder zurückgreifen, die er dramatisch „Dissidenten“ und „Aussteiger“17Auch hier zeigt sich, dass Wagner seine manipulative Sprache nicht unter Kontrolle hat. Der Begriff Dissident wurde vorwiegend für oppositionelle Künstler und Intellektuelle in den Staaten des sozialistischen Ostblocks wie Vaclav Havel und die Unterzeichner der Charta 77 gebraucht. „Aussteigen“ kann man aus Sekten, aus der Neonaziszene und aus dem bürgerlichen Leben, aber nicht aus dem Deutschen Richterbund oder aus KRiStA. nennt (S. 127 f.) und die für ihn Kronzeugen der Anklage gegen KRiStA sein sollen. Dabei verfährt Wagner nach dem Prinzip jeder guten Verschwörungstheorie: Was jeder sehen kann (hier: die Satzung von KRiStA und die Beiträge auf der Webseite) täuscht nur, in Wahrheit ist alles ganz anders und diese Wahrheit meint Wagner von den „Aussteigern“ erfahren zu können.

Letztlich, und das soll nicht übersehen werden, ist das, was Wagner in seinem Buch vorführt, nicht mehr als ein krasses Beispiel für das, was in der Corona-Krise die „neue Normalität“ war: eine extreme Diskursverengung mit aggressiver Diffamierung und Ausgrenzung abweichender Meinungen und ihrer Vertreter, dazu ein hoher Konformitätsdruck in praktisch allen gesellschaftlichen Teilsystemen und schließlich ein starker Hang zu autoritärem, teilweise sogar totalitärem Denken und (Regierungs-)Handeln.

Und jetzt?

Derzeit fallen allerdings die vermeintlichen Gewissheiten der Corona-Politik vor den Augen des Publikums wie ein Kartenhaus zusammen: Der Sachverständigenausschuss zur Evaluation der Coronamaßnahmen hat schon in seinem Bericht vom 30.06.2022 (dort S. 70) ganz offiziell festgestellt, dass ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar ist. Die Cochrane-Gesellschaft, deren Veröffentlichungen als Goldstandard in der evidenzbasierten Medizin gelten, kommt in einer am 30.01.2023 veröffentlichten Meta-Studie zu dem Ergebnis, dass das Maskentragen epidemiologisch gesehen keinen oder allenfalls einen geringen Effekt hinsichtlich der Ausbreitung von Covid-19 hat.18Zitat: „Wearing masks in the community probably makes little or no difference to the outcome of influenza-like Illness (ILI)/COVID-19 like illness compared to not wearing masks“. Dazu auch: WELT. In dem – einen Tag nach der Cochrane-Studie erschienenen – taz-Artikel vom 31.01.23 hat Wagner noch selbstgewiss und ohne Begründung den Lesern mitgeteilt, im Beschluss des Amtsgerichts Weimar zur Maskenpflicht in der Schule sei „kontrafaktisch“ behauptet worden, dass Masken keinen Effekt auf das Infektionsgeschehen hätten. Selbst unter einstigen Lockdown-Verfechtern wie Christian Drosten und Lothar Wieler ist es inzwischen Konsens, dass die Schulschließungen unnötig waren und Gesundheitsminister Lauterbach erklärt in einer Talkshow, dass bestimmte Maßnahmen „Schwachsinn“ gewesen seien, während gleichzeitig die Schäden, die die Corona-Maßnahmen in der Gesellschaft angerichtet haben, immer offener diskutiert werden.

Wie Joachim Wagner damit zurechtkommen wird, kann getrost ihm überlassen bleiben. Wünschenswert wäre aber, dass er zumindest erkennt, dass er mit seinem Bashing von kritischen Juristen inzwischen ein totes Pferd reitet. Absteigen wäre da vielleicht eine Idee.

Endnoten

  • 1
    Dies ist ein Artikel in eigener Sache. Eigene Sache heißt in erster Linie die des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte n. e. V., in zweiter Linie die des Autors und seines Kollegen Christian Dettmar. KRiStA und seine Mitglieder sind geduldig und reagieren keineswegs auf jeden öffentlichen Angriff. Die nicht nur unsachlichen, sondern diffamierenden, gezielt rufschädigenden Angriffe des Journalisten Joachim Wagner gegen die drei Genannten, die mit der Veröffentlichung seines Buches „Rechte Richter“ im September 2021 begonnen haben und bis heute andauern, zuletzt mit einem Artikel in der taz vom 31.01.2023, verlangen aber eine erneute (s. bereits hier) Auseinandersetzung mit Wagner.
  • 2
    Der Autor hat in der Corona-Krise gelernt, dass Missverständnisse bei einem Text unvermeidbar sind, wenn sie vom Leser gewollt werden. Dennoch wird an dieser Stelle versichert, dass der Autor (selbstverständlich!) Rechtsextremismus entschieden ablehnt, Linksextremismus ebenso.
  • 3
    Die Ausrufung eines „Kampfs gegen links“ hätte zweifelsohne empörte Reaktionen zur Folge, während Konservative damit leben müssen, dass zwischen Rechtsextremismus und „rechts“ begrifflich nicht mehr unterschieden wird. Die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder hat dazu bemerkt, dass der „Kampf gegen rechts“ wörtlich zu nehmen sei: Politische Überzeugungen, die nicht links sind, sollen als illegitim im demokratischen Diskurs gebrandmarkt werden.
  • 4
    Im Wikipedia-Artikel über Wagner und im Klappentext des Buches „Rechte Richter“ ist zu lesen, dass er als Assistenzprofessor gearbeitet habe. Den Titel „Assistenzprofessor“ (engl. assistant professor) gibt es in Deutschland allerdings nicht, am ehesten kommt ihm der „Juniorprofessor“ (eine Professur ohne Habilitation) nahe, den es aber erst seit 2002 gibt. Die korrekte Bezeichnung für Wagners Stelle an der FU Berlin dürfte daher „wissenschaftlicher Assistent“ lauten.
  • 5
    Die Bezeichnung „AfD-Richter“ ist genau genommen auch schon polemisch, unterstellt sie doch, dass ein Richter, der Mitglied der AfD ist, sich in seiner Arbeit (z. B. als Zivil-, Arbeits- oder Finanzrichter) maßgeblich, jedenfalls stärker als Richter, die Mitglied einer anderen Partei sind, von seinen politischen Überzeugungen bestimmen lässt. Einen Richter, der Mitglied der SPD ist, als „SPD-Richter“ zu bezeichnen, würde als abschätzig betrachtet werden.
  • 6
    Als Beispiel dafür wird der sog. Ballstädt-Prozess am Landgericht Erfurt angeführt. Da Wagner die betreffenden Richter selbst nicht als „rechts“ klassifiziert, sind Titel und Untertitel des Buches schon aus diesem Grunde irreführend, aber auf den reißerischen Titel wollte er offensichtlich nicht verzichten.
  • 7
    Sämtliche Seitenangaben im Text beziehen sich auf Joachim Wagner, Rechte Richter, 2. Aufl., Berlin 2023 (im Impressum ist 2023 angegeben, das Buch erschien aber bereits im Dezember 2022).
  • 8
    Sprachsensibel wird er aber bei den Aufsätzen auf der Webseite von KRiStA. Hier will er festgestellt haben, dass sie „im Ton aggressiv bis polemisch“ seien (S. 124).
  • 9
    Sprachlogik ist für Wagner im Übrigen auch nicht wichtig: „Anti-Corona-Maßnahmen“ (so heißt es bei ihm durchgehend, nicht: „Corona-Maßnahmen“) und „Anti-Corona-Politik“ sind gut, „Anti-Corona-Richter“ sind dagegen schlecht.
  • 10
    Zur Klarstellung noch folgender Hinweis: KRiStA ist parteipolitisch neutral. Unter den Mitgliedern finden sich solche mit eher linken politischen Positionen, andere, die sich eher der politischen Mitte zurechnen, und wieder andere mit eher konservativen Positionen, die vor der bereits benannten Bedeutungsverschiebung unproblematisch als „rechts“ bezeichnet werden konnten. (Wobei auch nicht übersehen werden darf, dass, was „rechts“ und was „links“ ist, keineswegs mehr so klar ist wie noch vor 20 oder 30 Jahren.) Es geht in diesem Artikel daher nicht darum, sich dagegen zu verwahren, mit konservativen Positionen in Verbindung gebracht zu werden, sondern allein darum, dass KRiStA und seine Mitglieder in dem Sinne als „rechts“ etikettiert werden, dass sie illegitime politische Positionen vertreten würden.
  • 11
    In einem Artikel in der Sächsischen Zeitung vom 18.10.2021 schreibt Wagner von zwei Urteilen zur Maskenpflicht in der Schule aus Weimar, es war allerdings nur eine Entscheidung und diese war ein Beschluss. Der Autor dieses Textes hat in dem Artikel den Vornamen Christian. Im Interview der taz vom selben Tag spricht er von drei Urteilen zur Maskenpflicht aus Weimar und Weilheim, im nächsten Satz sind es dann wieder Beschlüsse. Dass Wagner Urteil und Beschluss nicht auseinanderhalten kann, sagt durchaus etwas über seine juristische Kompetenz. Und so geht es munter durcheinander. Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek heißt bei ihm Christian Murswiek (S. 107), ein Erfurter Ermittlungsrichter heißt zweimal Wildenauer und zweimal Wildenau usw. usf.
  • 12
    Natürlich würde er nicht auf die Idee kommen, Wolfgang Kubicki, Hans-Jürgen Papier oder Oliver Lepsius, um nur beispielhaft drei Namen zu nennen, als „rechts“ zu etikettieren. Das zeigt aber nur umso deutlicher, wie absurd seine „Beweisführung“ ist und vor allem, wie inkonsistent sein Denken. Im strengen Sinne kann man es gar nicht „Denken“ nennen, weil Wagner keine Begriffe hat bzw. seine Begriffe leer sind und seine Anschauung blind. Wagner will Wirklichkeit, die er nie versucht hat unvoreingenommen wahrzunehmen, weshalb er nur das sieht, was er schon vorher wusste, unter leere Begriffe („rechts“, „Querdenker“ etc.) fassen. Das kann zu keiner echten Erkenntnis führen.
  • 13
    Wie eingangs schon festgehalten: Komplexitätsreduktion durch Labelling und Ausschließung.
  • 14
    Angesichts dieses bundesoberbehördlichen Denkverbots, das für viele, die in der Bundesrepublik aufgewachsen waren, etwas völlig Neues war, konnte sich, wer noch in der DDR gelebt hatte, an das Lied von der Partei, die immer recht hat, erinnert fühlen.
  • 15
    Dieser Begriff, den Wagner geschätzt mindestens 50-mal in seinem Buch verwendet, ist auch Teil der Sprache der Abwertung, die Wagner unproblematisch findet.
  • 16
    Es ist sicher keine gewagte Spekulation zu behaupten, dass es noch wesentlich mehr maßnahmenkritische Richter gab und gibt, bei denen das aber nicht öffentlich wurde.
  • 17
    Auch hier zeigt sich, dass Wagner seine manipulative Sprache nicht unter Kontrolle hat. Der Begriff Dissident wurde vorwiegend für oppositionelle Künstler und Intellektuelle in den Staaten des sozialistischen Ostblocks wie Vaclav Havel und die Unterzeichner der Charta 77 gebraucht. „Aussteigen“ kann man aus Sekten, aus der Neonaziszene und aus dem bürgerlichen Leben, aber nicht aus dem Deutschen Richterbund oder aus KRiStA.
  • 18
    Zitat: „Wearing masks in the community probably makes little or no difference to the outcome of influenza-like Illness (ILI)/COVID-19 like illness compared to not wearing masks“. Dazu auch: WELT. In dem – einen Tag nach der Cochrane-Studie erschienenen – taz-Artikel vom 31.01.23 hat Wagner noch selbstgewiss und ohne Begründung den Lesern mitgeteilt, im Beschluss des Amtsgerichts Weimar zur Maskenpflicht in der Schule sei „kontrafaktisch“ behauptet worden, dass Masken keinen Effekt auf das Infektionsgeschehen hätten.