Roland Stöbe

Bereits im September 2024 haben wir versucht, die Entscheidung des Arbeitsgerichts Bonn im Fall Ulrike Guérot einzuordnen. Mittlerweile hat das Drama eine Fortsetzung erhalten. Es liegt das Berufungsurteil des Landesarbeitsgerichts Köln (LAG Köln)1LAG Köln 30. September 2025 – 10 SLa 289/24. vor.
Eine kurze wiederholende Einführung in den Fall
Die bekannte und seinerzeit im politischen Mainstream noch anerkannte und geschätzte Politologin Ulrike Guérot wurde Mitte 2021 zur Professorin für Politik in Europa unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-französischen Beziehungen an der Universität Bonn ernannt. Seit der Veröffentlichung ihrer Bücher zu Corona („Wer schweigt, stimmt zu“) und zum Ukrainekrieg („Endspiel Europa“) fiel sie in Ungnade. Dies führte dazu, dass die Universität das Arbeitsverhältnis mit ihr mit Schreiben vom 14. Februar 2023 ordentlich zum 31. März 2023 kündigte. Gestützt wurde die Kündigung auf ein behauptetes Fehlverhalten von Ulrike Guérot im Bewerbungsprozess. Durch die Vorlage des von der Donau-Universität Krems als habilitationsgleiche Schrift anerkannten Buchs aus dem Jahr 2016 „Warum Europa eine Republik werden muss: Eine politische Utopie“ habe sie das Vertrauen in ihre wissenschaftliche Redlichkeit zerstört. Das Buch entspreche nicht den Voraussetzungen guter wissenschaftlicher Praxis, sondern enthalte Plagiate.
Das Arbeitsgericht Bonn hatte die Kündigungsschutzklage von Ulrike Guérot als unbegründet abgewiesen.
Die Entscheidung des LAG Köln
Das LAG Köln hat nunmehr mit Urteil vom 30. September 2025 (10 SLa 289/24) die Berufung gegen das arbeitsgerichtliche Urteil zurückgewiesen.
Auch wenn es für die Auseinandersetzung in der Sache unerheblich ist, kann als zumindest ungewöhnlich doch angemerkt werden, dass selbst bei der Verkündung viereinhalb Monate nach der mündlichen Verhandlung das vollständig abgesetzte Urteil entgegen den Regelungen von § 69 Abs. 1 Satz 2, § 60 Abs. 4 Satz 2 ArbGG noch nicht vorlag.
In der Sache selbst folgte das LAG der Begründung des Arbeitsgerichts. Es meinte, Frau Guérot hätte bereits im Bewerbungsprozess über ihre wissenschaftliche Redlichkeit getäuscht. In der Vorlage des Werks „Warum Europa eine Republik werden muss: Eine politische Utopie“ als habilitationsadäquate Leistung im Bewerbungsprozess läge konkludent die Erklärung, dass darin die Grundsätze der guten wissenschaftlichen Praxis eingehalten seien und dieses Werk keine Plagiate enthalte. Jedenfalls hätte eine Offenbarungspflicht bestanden, dass das zur Bewerbung vorgelegte Werk diesen Anforderungen nicht genüge. Anhand der bereits vom Arbeitsgericht herangezogenen zehn Textstellen arbeitete das LAG heraus, weshalb die Zitierweisen von Frau Guérot ungenügend waren und deshalb nicht der gebotenen guten wissenschaftlichen Praxis entsprochen hätten.2Nach Auffassung des Verfassers handelt es sich nicht um bewusste Plagiate, sondern (mit Ausnahme von zwei Nichtkenntlichmachungen) im Wesentlichen nur um „unzureichende Verdeutlichungen“. Für den objektiven Betrachter war trotz der ungewöhnlichen Zitierweisen erkennbar, dass ein „Schmücken mit fremden Federn“ nicht beabsichtigt war. Wegen der einzelnen Zitate siehe hier. Die Hinnahme dieses Verhaltens sei der Beklagten nicht zumutbar, eine vorherige Abmahnung vielmehr entbehrlich. Frau Guérot habe nämlich (zumindest bedingt) vorsätzlich gehandelt. Die Täuschung im Bewerbungsverfahren wirke fort und beeinträchtige weiterhin die wissenschaftliche Reputation der Universität sowie die Autorität von Frau Guérot selbst im Verhältnis zu den von ihr im Rahmen ihrer Lehrverpflichtung zu betreuenden Studenten. Außerdem habe Ulrike Guérot nicht ausreichend darzulegen vermocht, dass die Kündigung mit ihren Äußerungen im öffentlich-politischen Diskurs zu den staatlichen Coronamaßnahmen sowie dem Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine in einem unmittelbaren Zusammenhang gestanden hätten, weshalb die Kündigung auch nicht als unzulässige Maßregelung gemäß § 612a BGB unwirksam sei.
Kritische Einordnung
Da das LAG im Wesentlichen der Argumentationslinie des Arbeitsgerichts folgte, ist es ausreichend, auf die bereits im Beitrag vom September 2024 geäußerte Kritik zu verweisen.
Es bleibt dabei, dass mit dieser Entscheidung arbeitsrechtliches Neuland betreten wurde.
Auch das LAG vertritt letztlich den Grundsatz, dass ein im Bewerbungsverfahren vorgelegtes Werk frei von jeglichen Verstößen gegen die Grundsätze der wissenschaftlichen Praxis sein müsse. Dass eine Kündigung wegen behaupteten wissenschaftlichen Fehlverhaltens dennoch in einem Spannungsverhältnis zur in Art. 5 Abs. 3 GG geschützten Wissenschaftsfreiheit steht, wurde nicht aufgelöst.
Die Rechtsprechung des BVerwG zur Entziehung eines Doktorgrades wegen Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis3BVerwG 21. Juni 2017 – 6 C 3/16. wurde zwar in den Obersätzen zitiert. Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass jeder Einzelfall umfassend gewürdigt werden muss. Hierfür sind die Anzahl der Plagiatsstellen, ihr quantitativer Anteil an der Dissertation sowie ihr qualitatives Gewicht, d. h. ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Aussagekraft der Arbeit, zu berücksichtigen. Die Plagiatsstellen müssen die Arbeit quantitativ, qualitativ oder in einer Gesamtschau beider Möglichkeiten prägen.4BVerwG 21. Juni 2017 – 6 C 3/16. Selbst wenn man mit dem LAG von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis in zehn Textpassagen ausgehen wollte, fehlt es dennoch an jeglichem Versuch, die Rechtsprechung des BVerwG in einen Gleichklang zu bringen mit den Voraussetzungen, die anzulegen sind an die mindestens gleichermaßen gravierende Sanktion einer Kündigung eines Arbeitsverhältnisses. Zur Frage, ab welchem quantitativen oder qualitativen Ausmaß eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens eine wissenschaftliche Leistung in der Gesamtwertung nicht mehr als zurechenbare wissenschaftliche Eigenleistung gewertet werden kann, somit de facto ein Eignungsmangel angenommen werden muss, verhält sich das LAG (wahrscheinlich bewusst) nicht.
Das Urteil des LAG verweist zutreffend auf die Rechtsprechung des BAG, wonach die Möglichkeit einer Anfechtung den Ausspruch einer Kündigung nicht ausschließe.5BAG 6. September 2012 – 2 AZR 270/11. Jedoch ist dabei zu beachten, dass die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB) einen Grund voraussetzt, der schon bei Abschluss des Arbeitsvertrags vorlag, während die Kündigung dazu dient, ein durch nachträgliche Umstände belastetes oder sinnlos gewordenes Arbeitsverhältnis zu beenden. Damit ein Anfechtungsgrund auch für eine Kündigung herangezogen werden kann, bedarf es als zusätzliches Element, dass der Anfechtungsgrund im Arbeitsverhältnis noch so stark nachwirkt, dass dem Arbeitgeber nach seinem Bekanntwerden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist.6BAG 6. September 2012 – 2 AZR 270/11. Mit anderen Worten: Bei der Anfechtung richtet sich der Blick nach hinten, bei der Kündigung dagegen nach vorne. Es gilt wie auch sonst im Kündigungsrecht das Prognoseprinzip.7BAG 20. November 2014 – 2 AZR 651/13. In der Prognosebetrachtung, ob die Vorlage eines den wissenschaftlichen Standards nicht in jeder Weise genügenden Werks zu Bewerbungszwecken geeignet ist, auch Nachwirkungen zu entfalten, geht es nicht um die Frage, ob auch künftig mit weiteren „Täuschungshandlungen“ zu rechnen ist. Vielmehr muss es der Sache nach doch darum gehen, ob aufgrund der „Täuschung“ eine ungeeignete Person eingestellt wurde und dies personenbedingt weiterhin durchschlägt.8Zu vergleichbaren Fällen bei Einstellungen im öffentlichen Dienst nach verschwiegener MfS-Tätigkeit: BAG 12. Mai 2011 – 2 AZR 479/09. Hier setzt sich oben Ausgeführtes in der Interessenabwägung fort. Entweder der Verstoß gegen wissenschaftliche Grundsätze ist so schwerwiegend, dass er auch zum Entzug des akademischen Titels hätte führen können, oder er ist es nicht. Der bloße Gesichtspunkt, dass die Reputation der Universität geschädigt sein könnte, erscheint vor diesem Hintergrund unmaßgeblich. Denn nochmals: Es bedarf im Wissenschaftsbetrieb noch viel mehr als in „normalen“ Arbeitsverhältnissen eines objektivierbaren Maßstabs für die Eignung. Die Universität suchte eine Lehrkraft zur Unterrichtung der Studenten. Sie hat mit der Klägerin eine solche gefunden. Ein fortdauerndes „Durchschlagen“ des behaupteten Vertragsverstoßes auf das laufende Arbeitsverhältnis kann somit nur vorliegen, wenn objektiv und fortbestehend eine Eignung nicht vorliegt.9Es wird auch sonst bei Eignungs- und Befähigungsmängeln auf die Dauer deren Fortbestands abgestellt. Vergleiche hierzu: BAG 20. Juni 2024 – 2 AZR 134/23; BAG 10. April 2014 – 2 AZR 812/12. Ob diese Eignung bei fünf, zehn, 20 oder 50 Fehlzitaten entfällt, ist objektivierbar. Liegt der Mangel unterhalb der Schwelle, liegt ein Eignungsmangel nicht vor. Bloß muss erst einmal geklärt werden, wo genau diese Schwelle liegt, und dann subsumiert werden.
Denn wenn es der Universität nur darum gegangen wäre, die „Täuschung“ zu sanktionieren, hätte sie anfechten müssen.
Dass das LAG die Revision zum BAG nicht zugelassen hat, ist vor diesem Hintergrund ärgerlich. Es bleibt zu hoffen, dass Ulrike Guérot eine Nichtzulassungsbeschwerde einlegt und das BAG die Möglichkeit eröffnet, die angesprochenen Grundsatzfragen zu klären.
Fazit
Im vorliegenden Fall geht es nur vordergründig um „Plagiate“. Mit den vom Arbeitsgericht Bonn und dem LAG Köln angelegten Maßstäben ist die Freiheit der Wissenschaft gefährdet, bietet sie doch einen wirkungsvollen Hebel, um unangenehme Meinungen aus dem Wissenschaftsbetrieb zu verdrängen. Nicht von ungefähr ist u. a. dieser Fall derzeit Gegenstand einer Untersuchung des Committee on Political Affairs and Democracy des Europäischen Rats über Einschränkungen der Meinungsfreiheit.10Der dazu gehörige Outline Report wird voraussichtlich im Dezember 2025 erscheinen.
Und abseits dieses Falls: Interessant wäre zu sehen, zu welchen Ergebnissen z. B. die Universität Hamburg in ihrer Untersuchung des etwaigen wissenschaftlichen Fehlverhaltens von Frau Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf gelangt, welcher vom „Plagiatsjäger“ Dr. Stefan Weber „Ghostwriting“ in 91 Textpassagen ihrer Dissertation vorgeworfen wird. Ob hier die gleiche Maßstabsstrenge angewandt wird?
Endnoten
- 1LAG Köln 30. September 2025 – 10 SLa 289/24.
- 2Nach Auffassung des Verfassers handelt es sich nicht um bewusste Plagiate, sondern (mit Ausnahme von zwei Nichtkenntlichmachungen) im Wesentlichen nur um „unzureichende Verdeutlichungen“. Für den objektiven Betrachter war trotz der ungewöhnlichen Zitierweisen erkennbar, dass ein „Schmücken mit fremden Federn“ nicht beabsichtigt war. Wegen der einzelnen Zitate siehe hier.
- 3BVerwG 21. Juni 2017 – 6 C 3/16.
- 4BVerwG 21. Juni 2017 – 6 C 3/16.
- 5BAG 6. September 2012 – 2 AZR 270/11.
- 6BAG 6. September 2012 – 2 AZR 270/11.
- 7BAG 20. November 2014 – 2 AZR 651/13.
- 8Zu vergleichbaren Fällen bei Einstellungen im öffentlichen Dienst nach verschwiegener MfS-Tätigkeit: BAG 12. Mai 2011 – 2 AZR 479/09.
- 9Es wird auch sonst bei Eignungs- und Befähigungsmängeln auf die Dauer deren Fortbestands abgestellt. Vergleiche hierzu: BAG 20. Juni 2024 – 2 AZR 134/23; BAG 10. April 2014 – 2 AZR 812/12.
- 10Der dazu gehörige Outline Report wird voraussichtlich im Dezember 2025 erscheinen.
3 Kommentare
Ich bin mal gespannt, wann man die Frage nach der Aufhebung der DDR-Verfassung stellt. Nach 35 Jahren feindlicher Übernahme wäre es ja mal Zeit.
„Was kuemmert mich mein Bloedsinn von Gestern“ sagte Konrad Adenauer.
Was kuemmert jetzt die von Par. 188 StGB geschuetzte Obrigkeit der „Extremisierten Mitte“ (Gruene-SPD-CDU) die Deutsch-Franzoesischen Beziehungen ?
Die „Deutsche Leitkultur“ wird uns, den Laien, den noch lernenden Leitkulturdeutschen, immer erstaunen!
Wird die BRD ein Unrechtsstaat wie ihre Vorgaengerinnen? Ist die BRD die neue Heimat der Rechtsbeuger?
Nur um es genau einordnen zu können: Mitte 2021 wurde Fr. Guerot zur Professorin ernannt, aufgrund ihres geschätzen und anerkannten Habitus. Und erst im Februar 2023, also knapp zwei Jahre nach Beginn als dozierende Professorin, fällt angeblich ein Fehlverhalten im Bewerbungsprozess auf? Ist es üblich, Professoren ohne Durchsicht der Bewerbungsunterlagen einzustellen, also in der freien Wirtschaft wäre das undenkbar? Mittlerweile hat jemand lesen gelernt und das Buch von 2016 in die Hand (gelegt) bekommen, fünf Jahre nach Antritt der Professorenstelle, was das Vertrauen in ihre wissenschaftliche Redlichkeit angeblich zerstört hätte? Was versteht man unter „guter wissenschaftlicher Praxis“, wenn ich Bilanz ziehe zur Coronazeit? Dass alles mit Corona und den einhergehenden Meinungen (mit gesundem Menschenverstand) nichts zu tun haben soll, mag man einer Amöbe erzählen, aber chronologische „Zufälle“ dieser Art kann glauben wer möchte. Sollte alles angenommene und gelesene so zutreffen, verbleibt bei mir eine fatale Meinung über Wissenschaft – und Justiz – heutzutage. Und ja, auf den Fall von Frau Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf bin ich sehr gespannt, war sie zur Coronazeit doch eine Verfechterin für Impfpflicht, welche nicht gegen das GG verstoße, man müsse darüber nachdenken, ob nicht eine verfassungsrechtliche Pflicht bestehe.