„Die Menschen dieses Landes sind keine Untertanen.“ – Hans-Jürgen Papier

McCarthy im Wissenschaftsbetrieb. Das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn im Kündigungsschutzprozess von Ulrike Guérot

Roland Stöbe und Falk Meinhardt

Das erstinstanzliche Urteil1ArbG Bonn, 24.04.2024, 2 Ca 345/23, BeckRS 2024, 8333. im Fall Ulrike Guérot ist nun veröffentlicht. Die FAZ preist das 276 Randnummern umfassende Urteil als „wegweisend“ und lobt die „überzeugende“ und „lehrbuchmäßig durchgeführte juristische Prüfung“. Diese Einschätzung wird von den Verfassern dieses Beitrags nicht geteilt.

Der Fall

Die bekannte Politologin Ulrike Guérot wurde Mitte 2021 zur Professorin für Politik in Europa unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-französischen Beziehungen an der Universität Bonn ernannt. Im politischen Mainstream ist sie seit der Veröffentlichung ihrer Werke zu Corona („Wer schweigt, stimmt zu“) und zum Krieg in der Ukraine („Endspiel Europa“) in Ungnade gefallen. Unter anderem auf Druck der „Studierenden“ sah sich die Universität Bonn als Arbeitgeberin zu einer öffentlichen Distanzierung von ihrer Professorin veranlasst. Die Berichterstattung von Markus Linden2Der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden fällt u. a. durch Beiträge für die Grünen-nahe Lobbyorganisation Liberale Moderne (LibMod) und deren Ableger „Narrativcheck” auf. in der FAZ vom 3. Juni 2022 und 7. Juni 2022  über vermeintliche Plagiate in den Werken Ulrike Guérots scheint demnach willkommener Anlass gewesen zu sein, um die Beendigung des Arbeitsverhältnisses in den Blick nehmen zu können. Die Universität beauftragte die bei ihr gebildete Untersuchungskommission für wissenschaftliches Fehlverhalten mit der Überprüfung der Vorwürfe. Die Kommission gelangte zur Feststellung, dass Ulrike Guérot in drei der von ihr untersuchten Werken („Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie“ aus dem Jahr 2016, „Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde“ aus dem Jahr 2017 und „Wer schweigt, stimmt zu“ aus dem Jahr 2022) vorsätzlich plagiiert habe. Die Universität kündigte deshalb das mit Ulrike Guérot bestehende Arbeitsverhältnis am 14. Februar 2023 ordentlich zum 31. März 2023.

Die Entscheidung

Das Arbeitsgericht wies die gegen diese Kündigung erhobene Kündigungsschutzklage ab. 

Das Arbeitsgericht stützt sich in seiner Begründung ausschließlich auf den Vorwurf, dass Ulrike Guérot die Universität im Bewerbungsverfahren durch die Vorlage des Werks „Warum Europa eine Republik werden muss“ arglistig getäuscht habe. Sie habe dadurch rechtswidrig einen erheblichen Vorteil erlangt. Auf die anderen beiden Werke, die aus Sicht der Universität ebenfalls Plagiate enthalten sollen, geht das Arbeitsgericht nicht ein.

Das Arbeitsgericht weist gleich zu Beginn darauf hin, dass der Kündigung nicht entgegenstehe, dass der Arbeitgeber die Willenserklärung zum Vertragsschluss auch gem. § 123 Abs. 1 BGB wegen arglistiger Täuschung hätte anfechten können. Dem Arbeitgeber stehe es frei, auf welche Weise er das Arbeitsverhältnis zu beenden gedenke.

Die Täuschung soll darin liegen, dass Ulrike Guérot im Berufungsprozess fälschlicherweise vorgespiegelt habe, dass in dem beanstandeten Werk die sog. „Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis“ eingehalten werden.

Das Werk „Warum Europa eine Republik werden muss“ sei ein wissenschaftliches Werk. Denn die Reichweite der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) bestimme, welche Veröffentlichungen von ihr geschützt sind. Von der Wissenschaftsfreiheit geschützte Werke seien damit wissenschaftliche Publikationen. Das gelte auch für „schlechte Wissenschaft“ und für populärwissenschaftliche Veröffentlichungen. Letztere hätten lediglich einen größeren Adressatenkreis. Bei Ulrike Guérot komme hinzu, dass sie dieses Werk im Bewerbungsprozess selbst vorgelegt habe unter Verweis, dass es bereits von der Vorarbeitgeberin, der Universität Krems, als habilitationsgleiche Schrift anerkannt worden sei.

Im Verhältnis zur Universität sei Ulrike Guérot an die wissenschaftliche Redlichkeit gebunden gewesen. Diese gehöre zur wissenschaftlichen Kernpflicht. Hiergegen habe sie verstoßen. Plagiieren sei ein wissenschaftliches Fehlverhalten, welches nicht nur vorliege, wenn ein Autor Texte aus Arbeiten anderer ohne Angabe der richtigen Quellen übernehme. Vielmehr liege ein wissenschaftliches Fehlverhalten auch in Fällen vor, in denen der Verfasser auf den Ursprung der von ihm wortgleich oder mit wenigen Umformulierungen bzw. Umgruppierungen entnommenen Fremdtexte zwar vereinzelt im Fließtext verweise, er jedoch nicht deutlich mache, dass es sich dabei um (nahezu) wortlautgetreue Übernahmen handele. Ein solches Verhalten sei geeignet, beim Leser eine Fehlvorstellung über die Urheberschaft der betroffenen Textstellen zu erzeugen. Es werde über die Eigenständigkeit der wissenschaftlichen Leistung getäuscht. Das Arbeitsgericht beanstandet die von der Universität eingeführten zehn Textpassagen mit Zitierfehlern, von denen acht in die Kategorie der nicht hinreichenden Verdeutlichung fielen, als relevantes wissenschaftliches Fehlverhalten. Der Vorsatz sei indiziert. Es entspreche der Lebenserfahrung, dass solche fehlerhaften Übernahmen in zehn Fällen nicht versehentlich geschehen sein können.

Im Anschluss hieran meint das Arbeitsgericht, Ulrike Guérot wäre hinsichtlich dieser Nichteinhaltung der Grundsätze der guten wissenschaftlichen Praxis im Bewerbungsprozess offenbarungspflichtig gewesen. Denn die Einreichung einer Schrift als habilitationsadäquate Leistung im Rahmen eines Berufungsverfahrens zu einer Universitätsprofessorin sei zwingend mit der konkludenten Erklärung verbunden, das vorgelegte Werk „stelle in jeder Hinsicht eine eigene geistige Leistung dar, soweit nicht zulässig in Bezug genommene fremde geistige Hervorbringungen ausdrücklich als solche gekennzeichnet sind“.

Weil das Werk Plagiate enthalten habe und Ulrike Guérot diesen Mangel trotz Kenntnis desselben nicht offenbart habe, habe sie die Universität im Einstellungsprozess vorsätzlich und arglistig getäuscht.

Die Kündigung erweise sich auch im Rahmen der Interessenabwägung als sozial gerechtfertigt. Denn der Pflichtenverstoß sei so schwerwiegend, dass schon eine erstmalige Hinnahme ausgeschlossen und eine vorherige Abmahnung entbehrlich sei. Ulrike Guérot sei keine wissenschaftliche Anfängerin. Deshalb sei bei ihr ein strengerer Maßstab an die Redlichkeit anzulegen. Der durch den Verstoß gegen die Redlichkeit anhaftende Makel schlage auch auf die Reputation der Universität durch. Das sei nicht zumutbar. 

Bewertung

Diese Entscheidung betritt – für den Hochschulbereich – arbeitsrechtliches Neuland, ist dabei zu streng und fügt sich nicht in die Bewertung anderer Fallgestaltungen mit wissenschaftlichem Fehlverhalten und auch nicht in sonstige arbeitsrechtliche Bewertungsmaßstäbe ein.

Es besteht Übereinstimmung, dass das Werk „Warum Europa eine Republik werden muss“ als ein wissenschaftliches Werk angesehen werden muss. Zumindest hat Ulrike Guérot dieses als Autorin durch die Einführung als habilitationsgleiche Schrift in einen solchen Status erhoben. Die beanstandeten zehn Textpassagen dürften auch nicht den Grundsätzen guter wissenschaftlicher Praxis entsprochen haben.

Nicht gefolgt werden kann hingegen der Annahme des Arbeitsgerichts, dass Ulrike Guérot verpflichtet gewesen wäre, diese bei der Erstellung des Werks unterlaufenen Sorgfaltspflichtverstöße im Bewerbungsprozess zu offenbaren. Die damit verbundene Unterstellung, mit der Vorlage einer habilitationsgleichen Schrift würde konkludent zum Ausdruck gebracht werden, das vorgelegte Werk stelle „in jeder Hinsicht“ eine eigene geistige Leistung dar, geht zu weit. Vielmehr zeigt die Lebenserfahrung, dass auch im Alltag des Wissenschaftsbetriebs nicht anders als sonst im betrieblichen Alltag immer wieder Verhaltensweisen vorkommen, die zwar gegen die rechtlich gebotene Sorgfalt verstoßen, aber doch weniger schwer wiegen. Das gilt gerade auch für den Umgang mit den Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis. Dort schon leichte Sorgfaltspflichtverletzungen als wissenschaftliches Fehlverhalten zu qualifizieren, engte die wissenschaftliche Entscheidungsfreiheit über Gebühr ein.3Löwisch/Jocher: Ordnung der Wissenschaft 3 (2020), S. 169, 171. Abzustellen ist demnach auf den Zweck der einzuhaltenden Sorgfaltspflicht. Die Sorgfaltspflicht beim Zitieren dient dazu, die eigenständige wissenschaftliche Leistung von der Leistung Dritter abzugrenzen. Der unbefangene Leser soll keinen falschen Eindruck vom Umfang und Wert der eigenen Leistung des Verfassers gewinnen.4OVG Nordrhein-Westfalen, 20.12.1991, 15 A 77/89. Die Beurteilung, ob ein Werk als Ganzes noch als wissenschaftliche Eigenleistung angesehen werden kann, muss dann aber nach den gleichen Grundsätzen behandelt werden wie bei der Entziehung eines Doktorgrades. Wollte man demgegenüber jeden Einzelverstoß gegen die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis zum Pflichtenverstoß im Verhältnis zum universitären Arbeitgeber erheben, liefe dies am Ende auf die Schaffung eines absoluten Kündigungsgrunds hinaus. Wie in den Fällen zum Entzug eines akademischen Titels muss deshalb der jeweilige Einzelfall umfassend gewürdigt werden. Hierfür sind die Anzahl der Plagiatsstellen, ihr quantitativer Anteil an der Dissertation sowie ihr qualitatives Gewicht, d. h. ihre Bedeutung für die wissenschaftliche Aussagekraft der Arbeit, zu berücksichtigen. Die Plagiatsstellen müssen die Arbeit quantitativ, qualitativ oder in einer Gesamtschau beider Möglichkeiten prägen. Eine quantitative Prägung ist zu bejahen, wenn die Anzahl der Plagiatsstellen und deren Anteil an der Arbeit angesichts des Gesamtumfangs überhandnehmen. Derartige Passagen prägen die Arbeit qualitativ, wenn die restliche Dissertation den inhaltlichen Anforderungen an eine beachtliche wissenschaftliche Leistung nicht genügt.5BVerwG, 21.06.2017, 6 C 3/16. Die Universität und mit ihr das Arbeitsgericht beanstandeten aber nur zehn Textpassagen in einem Werk von 360 Seiten mit 351 Endnoten, die sich über 42 Seiten erstrecken.6Seite 316 – 358; 4. Aufl. 2023. Eine quantitative Prägung kann demnach nicht angenommen werden. Das ist auch dem Arbeitsgericht aufgefallen, welches dann wortreich für unerheblich erklärt, dass die beanstandeten Stellen weniger als zwei Prozent des Seitenumfangs ausmachen, und feststellt, die Plagiatsstellen seien in „qualitativer Hinsicht für das Werk nicht unbedeutend“, indem auf die Prägung einzelner Kapitel durch unzureichend gekennzeichnete Passagen verwiesen wird. 

Hinzu kommt, dass das Buch jedenfalls in seiner Ursprungsintention nicht als habilitationsgleiche Schrift verfasst wurde, sondern als eine Streitschrift für ein großes Publikum. So sind auch die beanstandeten Zitate zu verstehen, in denen es z. B. heißt: 

„Die nachfolgenden zwei Seiten bis Mitte S. 50 sind maßgeblich inspiriert von dem brillanten Artikel von Albrecht von Lucke, Die Rückkehr der Grenzen und die populistische Gefahr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Oktober 2015.“7Endnote 34 auf Seite 65 (ab 2. Aufl.).

„Ich schulde die Passagen und Literaturhinweise zum doux commerce ganz wesentlich dem großartigen Buch von Olaf Asbach (Hrsg.), Der moderne Staat und »le doux commerce«. Politik, Ökonomie und internationale Beziehungen im politischen Denken der Aufklärung, Nomos, Baden Baden 2014, von dem man nur hoffen kann, dass es zum Standardwerk an Universitäten wird, damit die nächste Generation Studierende die wirtschaftliche Neuorientierung Europas vorantreiben kann.“8Endnote 112 auf Seite 212.

„Auf den folgenden drei Seiten (S. 193 – 196) habe ich große und teilweise über mehrere Sätze wörtliche Anleihen genommen aus dem brillanten Essay von Mathias Greffrath, Die Arbeit im Anthropozän, Essay & Diskurs, Deutschlandfunk, 3. 1. 2016, die nicht im Einzelnen markiert sind, da ich sie jeweils geringfügig modifiziert oder anders in meinem eigenen Text zusammengestellt habe. Ich danke dem Autor Martin Greffrath und hoffe, er entschuldigt diese Form der nicht akkurat wissenschaftlichen Wiedergabe und hoffe gleichzeitig, durch die Verwendung dieser so großartigen Textbausteine viele Leser anzuregen, sich diesen vorzüglichen Essay im Podcast des DLF anzuhören: http://www.deutschlandfunk.de/die-arbeit-im-anthropozaen-eine-knappe-weltgeschichteder.1184.de.html?dram:article_id=3378359Endnote 165 auf Seite 234.

Auch wenn in den Endnoten zu den Textpassagen nicht genau kenntlich gemacht ist, welcher Teil von der Verfasserin selbst stammt und welcher Teil übernommen wurde, wird über die Art der Zitierung deutlich, dass die in den Passagen enthaltenen Gedankenführungen im Wesentlichen nicht von ihr stammen, sondern von den zitierten Autoren. Dieser Zitierweise liegt die Absicht zugrunde, den Leser zur Lektüre der zitierten Werke zu inspirieren. Die vom Arbeitsgericht bezogen auf diese Zitate unterstellte Absicht von Ulrike Guérot, die Übernahme qualitativ nicht unbedeutender Teile verschleiern zu wollen, ist fernliegend. Insofern ist auch nicht nachvollziehbar, wie die Universität einem Irrtum unterlegen haben soll, da sich die Art der für wissenschaftliche Werke im engeren Sinne ungewöhnlichen Zitierung aus dem Werk klar ergibt.

Damit geht einher, dass auch ein Vorsatz, die Universität im Bewerbungsverfahren zu täuschen, nicht unterstellt werden kann. Ein vorsätzlicher Verstoß gegen die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis muss sich nämlich – nach zivilrechtlichen Grundsätzen – auch auf die Rechtswidrigkeit des Handelns erstrecken.10Herrschende Meinung im Zivilrecht, vgl. etwa BGH, 27.06.2024, I ZR 14/21; 16.05.2017, IV ZR 266/16; BAG, 14.01.2009, 5 AZR 246/08; 18.01.2007, 8 AZR 250/06; 18.04.2002, 8 AZR 348/01; Grüneberg/Grüneberg: BGB 83. Aufl. § 276 Rn. 11. Der Handelnde  muss also mindestens in Kauf nehmen, dass er sich rechtswidrig verhält. Verkennt der Wissenschaftler, dass sein Verhalten gegen einschlägige Regeln guter wissenschaftlicher Praxis verstößt, handelt er auch nicht vorsätzlich.11Löwisch/Jocher: Ordnung der Wissenschaft 3 (2020), S. 169, 173. Zwar kann bei einer Wiedergabe fremder Textstellen ohne Beleg regelmäßig davon ausgegangen werden, dass sich der Vorsatz auch auf die Rechtswidrigkeit der Täuschung erstreckt. Aber es kann auch einmal anders liegen: Billigt z. B. der Betreuer einer Dissertation eine Zitierpraxis, die von dem im Fach üblichen Standard abweicht, wird deren Verfasser regelmäßig davon ausgehen, dass er sich rechtmäßig verhält.12Löwisch/Jocher: Ordnung der Wissenschaft 3 (2020), S. 169, 173. Vorliegend ist zu bedenken, dass das beanstandete Werk verfasst wurde, bevor Ulrike Guérot überhaupt auf die Idee kam, diese als habilitationsgleiche Schrift in einem Bewerbungsverfahren vorzulegen. Es spricht demnach schon viel dafür, dass sie sich (jedenfalls ursprünglich) der „Wissenschaftlichkeit“ ihres Werkes nicht einmal bewusst war. Die Vorlage dieses Werks führte dann zuerst zu einer Ernennung zur Professorin an der Universität Krems. Die Universität Krems beanstandete die erkennbar vom Standard abweichende Zitierweise von Ulrike Guérot nicht. Es sei nochmals betont: Nur in zwei Fällen fehlt es überhaupt an einem Zitat. Im Übrigen liegen „nur“ unzureichende Verdeutlichungen vor. Weshalb die Vorlage desselben Werks, welches bei der Universität Krems zur Ernennung als Professorin geführt hatte, bei der erneuten Bewerbungsvorlage bei der Universität Bonn vorsätzlich in Bezug auf dessen Eignung zum Nachweis der wissenschaftlichen Qualifikation hat sein sollen, erschließt sich vor diesem Hintergrund nicht.

Aber selbst wenn man zugunsten der Universität unterstellen wollte, dass „an sich“ ein ausreichender Grund für eine ordentliche Kündigung vorläge, müsste die Kündigung spätestens auf der zweiten Prüfungsstufe der Interessenabwägung scheitern.

Eine Kündigung ist keine Sanktion pflichtwidrigen Verhaltens. Mit ihr soll vielmehr der Zweck der Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses erreicht werden.13BAG, 22.10.2015, 2 AZR 569/14. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem das Gestaltungsmittel der Kündigung statt der Anfechtung gewählt wird, ist zudem zu beachten, dass der denkbare Anfechtungsgrund im Arbeitsverhältnis noch so stark nachwirken muss, dass dem Arbeitgeber nach seinem Bekanntwerden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses  unzumutbar ist.14BAG, 06.09.2012, 2 AZR 270/11. Das klassische vorrangige Mittel, um der Gefahr künftiger Störungen im Arbeitsverhältnis zu begegnen, ist die Abmahnung.15BAG, 20.05.2021, 2 AZR 596/20. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder wenn es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist.16BAG, 20.05.2021, 2 AZR 596/20. Muss aber die bei Vertragsabschluss begangene Pflichtverletzung im Arbeitsverhältnis noch nachwirken, kann diese Pflichtverletzung nicht schwerer wiegen, als wäre sie erst während des Bestehens des Arbeitsverhältnisses begangen worden. Der Verstoß gegen die Grundsätze der guten wissenschaftlichen Praxis in einem erst während des Arbeitsverhältnisses veröffentlichten wissenschaftlichen Werk wäre dann aber allenfalls eine Schlechtleistung, für die eine Entbehrlichkeit der Abmahnung in der Regel ausscheiden dürfte.17BeckOK Arbeitsrecht/Rolfs 72. Edition § 1 KSchG Rn. 278.

Wenn man nicht zuvor schon den Vorsatz gänzlich ausgeschlossen hat, wirkt sich auf der Stufe der Interessenabwägung zudem der dann allenfalls noch als gering einzustufende Grad des Verschuldens aus. Ulrike Guérot hat das Werk „Warum Europa eine Republik werden muss“ ursprünglich nicht mit der Intention zur Vorlage als habilitationsgleiche Schrift verfasst. Es wurde aber von der Universität Krems als solche akzeptiert. Mit einer anderen Bewertung beim Bewerbungsprozess bei der Universität Bonn musste sie nicht rechnen und deshalb auch der Einreichung keinen „Disclaimer“ hinzufügen.

Schlussgedanken

Sollte die Strenge des Arbeitsgerichts Bonn Bestand haben, müssten im wissenschaftlichen Betrieb alle Alarmglocken klingeln. Denn wenn nur die in „jeder Hinsicht“ fehlerfreie „eigene geistige Leistung“ Gewähr bieten kann, nicht nach Jahr und Tag wegen einer Täuschung im Bewerbungsprozess einer Kündigung ausgesetzt zu sein, steigt der Konformitätsdruck zu „politisch korrektem“ Verhalten. Auch eine im bestehenden Anstellungsverhältnis zu einem kontroversen Thema geschriebene populärwissenschaftliche Streitschrift – eifrig durchsucht –, böte möglicherweise Kündigungsgründe, an die bislang nicht zu denken war.  Wer plötzlich nicht mehr zu den „Guten“ gehört, kann sich dann ganz schnell als Fallbeispiel des demnächst erscheinenden Buchs „Wer stört, muss weg“18Heike Egner und Anke Uhlenwinkel: Wer stört, muss weg! Die Entfernung kritischer Professoren aus Universitäten: Westend Verlag 1. Edition 18.11.2024. einreihen. Welcher (angestellte) Hochschullehrer wollte sich dann noch zu politisch kontroversen Themen äußern? 

Es sollte in diesem Zusammenhang nachdenklich stimmen, dass in den USA seit 2013 mehr Vertragsverhältnisse von Hochschullehrern im Kontext kontroverser Äußerungen oder Forschungen beendet wurden als in der McCarthy-Ära.19Lukianoff/Schlott: The Canceling of the American Mind, S. 59; siehe auch: Scholars under Fire Database. Ebenso beachtlich ist es, dass ausgerechnet die Top-Universität Harvard nun in Folge mehrfach auf dem letzten Platz des von der Foundation for Individual Rights and Expression (FIRE) herausgegebenen Free Speech Rankings zum Klima der Meinungsfreiheit innerhalb von Universitäten gelistet wird. 

Und abschließend sei noch dem Eindruck Ausdruck verliehen, dass es sich mit den Grundsätzen der guten wissenschaftlichen Praxis und einer Skandalisierung, die einem rechtsförmigen Einschreiten oftmals vorausgeht, wie mit dem märchenhaften Knüppel aus dem Sack verhält. Beiden Fällen ist ein voluntatives Element beim Einsatz nicht fremd. Ist eine mainstream-mediale Skandalisierung – weil die Grenzen des gerade herrschenden Diskurskorridors verlassen wurden – opportun, wie im hier besprochenen Fall, findet diese statt; die Hochschule leitet anschließend ein förmliches Verfahren ein. Besteht kein politisches Interesse an einer genaueren Prüfung und soll der Mantel des Schweigens über den jeweiligen Fall gebreitet werden, so helfen auch einzelne Artikel in der Presse nicht, um Licht ins Dunkel zu bringen oder ein relevantes Handeln auszulösen. So soll z. B. die sozialphilosophische Arbeit „Justice and the Function of Health Care“, mit der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach den Doktortitel an der Harvard School of Public Health erwarb, allenfalls bestreitbaren Wert20Seibert: Karl Lauterbachs Dissertation und sein absehbares Versagen als Gesundheitspolitiker. haben und die Umstände, die ihm eine Professur verschafften, – vorsichtig formuliert – zweifelhaft sein. Geschadet hat es ihm bis heute nicht. Ebenso sollen nicht nur das Gutachten, sondern sogar die Namen der Gutachter im Bestellungsverfahren von PräsBVerfG Stephan Harbarth zum Honorarprofessor an der Universität Heidelberg unter Verschluss bleiben.21VGH Baden-Württemberg, 25.10.2023, 10 S 314/23. Da bleibt ein Gschmäckle, wie der Schwabe sagen würde.

Endnoten

  • 1
  • 2
    Der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden fällt u. a. durch Beiträge für die Grünen-nahe Lobbyorganisation Liberale Moderne (LibMod) und deren Ableger „Narrativcheck” auf.
  • 3
    Löwisch/Jocher: Ordnung der Wissenschaft 3 (2020), S. 169, 171.
  • 4
    OVG Nordrhein-Westfalen, 20.12.1991, 15 A 77/89.
  • 5
    BVerwG, 21.06.2017, 6 C 3/16.
  • 6
    Seite 316 – 358; 4. Aufl. 2023.
  • 7
    Endnote 34 auf Seite 65 (ab 2. Aufl.).
  • 8
    Endnote 112 auf Seite 212.
  • 9
    Endnote 165 auf Seite 234.
  • 10
    Herrschende Meinung im Zivilrecht, vgl. etwa BGH, 27.06.2024, I ZR 14/21; 16.05.2017, IV ZR 266/16; BAG, 14.01.2009, 5 AZR 246/08; 18.01.2007, 8 AZR 250/06; 18.04.2002, 8 AZR 348/01; Grüneberg/Grüneberg: BGB 83. Aufl. § 276 Rn. 11.
  • 11
    Löwisch/Jocher: Ordnung der Wissenschaft 3 (2020), S. 169, 173.
  • 12
    Löwisch/Jocher: Ordnung der Wissenschaft 3 (2020), S. 169, 173.
  • 13
    BAG, 22.10.2015, 2 AZR 569/14.
  • 14
    BAG, 06.09.2012, 2 AZR 270/11.
  • 15
    BAG, 20.05.2021, 2 AZR 596/20.
  • 16
    BAG, 20.05.2021, 2 AZR 596/20.
  • 17
    BeckOK Arbeitsrecht/Rolfs 72. Edition § 1 KSchG Rn. 278.
  • 18
    Heike Egner und Anke Uhlenwinkel: Wer stört, muss weg! Die Entfernung kritischer Professoren aus Universitäten: Westend Verlag 1. Edition 18.11.2024.
  • 19
    Lukianoff/Schlott: The Canceling of the American Mind, S. 59; siehe auch: Scholars under Fire Database.
  • 20
  • 21
    VGH Baden-Württemberg, 25.10.2023, 10 S 314/23.

9 Kommentare

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    • Andreas I auf 21. November 2024 bei 20:14
    • Antworten

    Hallo,
    da bleibt nicht nur ein Gschmäckle, da bleibt auch eine geistige Einöde.
    Zuerst an den Universitäten und wenn die entsprechend konditionierten Abgänger in die Gesellschaft entlassen werden und aufgrund ihrer ,,Qualifikation“ die Funktionseliten bilden, dann wird die gesamte Gesellschaft eine geistige Einöde.

    • Henning auf 9. Oktober 2024 bei 1:09
    • Antworten

    Nach aktuellem Kenntnisstand hat Herr Drosten seine Dissertation mit 20 Jahren Verspätung veröffentlicht, nach der für ihn gültigen Promotionsordnung zu spät, um das Promotionsverfahren erfolgreich abschließen zu können. Danach ist er nicht berechtigt, den Doktorgrad zu führen, obgleich er dies seit 20 Jahren tut. Hat sich da schon einmal die Goethe-Universität dahinter geklemmt? Möglicherweise kann die Universität ihm nicht einmal einen Doktorgrad entziehen, weil er niemals einen besaß. Vielleicht wartet die Universität mit einem förmlichen Verfahren auch noch so lange, bis Herr Drosten sich pharmakritisch äußert?

  1. Es läuft immer aufs Gleiche hinaus und ist ein deutliches Merkmal eines totalitären Staates, was nicht gesehen werden will … Zitat: „Deutschland hat faktisch keine Gewaltenteilung wie in vielen anderen Ländern Europas, die Staatsanwälte sind dem Justizministerium weisungsgebunden unterstellt und die Richter werden durch Einstellung, Beförderung und Beurteilung vom Justizministerium gesteuert.“  
    https://programm.ard.de/TV/tagesschau24/Startseite/?sendung=28721972088763 (wurde von der Tagesschau wieder gelöscht) 
    Daher … https://web.archive.org/web/20200419231036/https://programm.ard.de/TV/tagesschau24/Startseite/?sendung=28721972088763

    • Steffen Reukauf auf 17. September 2024 bei 10:58
    • Antworten

    Vielen Dank für die Erläuterung die sehr aufschlussreich und wichtig sind. Gerade für junge Menschen, die sich erst noch für einen Lebensweg entscheiden.

    Ich habe aber auch noch einen anderen Gedanken dazu:

    Wir sehen schon länger einen Zerfall dieser aufgeblasenen Universitäten. Nahezu alle großen Unternehmer haben vorzeitig ihr Studium, wegen Sinnlosigkeit abgebrochen. In letzter Zeit geht es sogar soweit, dass viele dieses gar nicht erst beginnen und sofort in der Wirtschaft durchstarten. Warum ist das so?
    An Wissen kommt man heute auf ganz anderen Wegen viel schneller und effizienter. Das war früher komplett anders. Intelligent machen einen solche Einrichtungen sowieso nicht. Intelligenz ist angeboren, oder nicht.
    Was bleibt ist, dass diese Einrichtungen konform machen. Sie fördern das freie Denken nicht sondern verhindern es. Der Kern von Schulen ist heute der staatskonforme Mensch, der sich in das vorhandene Machtsystem einfügt und diesem dient. Die Jenigen, die sich am besten anpassen können, kommen am weitesten und erhalten zum Schluss auch die entsprechenden Funktionen, Titel und Ämter. Kritische Selbstdenker werden auf diesem Weg frühzeitig aussortiert.

    Mit immer fortschreitender Technik, wird die Aufnahme von Wissen jeglicher Art auf alternativen Wegen immer einfacher.

    Was wir hier, mit dem aussondern eines kritischen Geistes erleben, ist also nur ein Symptom einer fortgesetzten politischen Einflussnahme auf Institutionen, die schon längst marode vor sich hin bröckeln. Das ist nicht nur in Deutschland so. Das institutionelle Bildungssystem hat seinen Zenit also längst überschritten. Wer wirklich vorwärts kommen möchte und schlau ist, nutzt andere Wege.

    Insofern würde ich diesem „Arbeitgeber“, auch nicht nach trauern. Im Gegenteil, wenn mich jemand nicht haben will, dann legt er offenbar keinen Wert auf meine Leistung. Wenn ich also überzeugt bin, dass ich Leistung erbringe, muss ich ganz sicher nicht irgend jemandem hinterher rennen.

    Meine Vermutung ist, dass sich Bildung in den nächsten 100 Jahren komplett verändern wird – weg von riesigen Betonbunkern, in denen Menschen den kompletten ersten Teil Ihres Lebens verbringen – hin zu einer freien Bildung – in dem man sein selbst erworbenes Wissen über freie Zertifizierungsstellen verifizieren kann.

    Umso freier und dezentraler Bildung wird, umso weniger politische Einflussnahme ist auf die jungen Menschen möglich und umso selbstständig kann er im Anschluss auch sein Leben aufbauen.

    Lange Rede kurzer Sinn… lasst diese Institutionen untergehen, sie werden langfristig eh verschwinden.

    • Alexander auf 17. September 2024 bei 8:36
    • Antworten

    Ich habe den Vortrag der Frau Ulrike Guérot im Symposium in Halle (Saale) live gehört. Ich kann ehrlich gesagt verstehen, weshalb die Universität eine solche (Pseudo)wissenschaft bei sich nicht haben will. Zum gerichtlichen Urteil selbst kann ich erstmal nichts sagen, denn ich habe ihn noch nicht gelesen.

      • Maredich Zinn auf 17. September 2024 bei 22:48
      • Antworten

      Wenn Sie so ein großartiger Versteher sind, dann helfen Sie doch den übrigen Lesern zu verstehen, was Sie genau verstehen, in dem Sie dies auch begründen. Ganz ehrlich.

      1. Kann er nicht;sonst hätte er es längst getan.

      • Andreas I. auf 21. November 2024 bei 20:35
      • Antworten

      Hallo,
      wer stellt jemanden ein, den er nicht haben will?!
      Wenn ,,die Universität eine solche (Pseudo)wissenschaft bei sich nicht haben will“, dann entsteht der logische Widerspruch, dass die Universität diese Professorin eingestellt hat.

    • Thomas Kubo auf 16. September 2024 bei 23:39
    • Antworten

    Vielen Dank für diese Erläuterungen, die auch einen hohen dokumentarischen Wert haben.

    Karl Lauterbach ist der spiegelbildliche Gegenfall zu allen anderen Hochschullehrern, die wegen ihres kritischen öffentlichen Engagements aus ihren jeweiligen Positionen gehoben wurden und werden sollen. Der beispielhaft zitierte Artikel aus der WELT und die Bewertung von Herrn Seibert bilden hierbei nur zwei besonders eklatante Aspekte der Spitze eines Eisbergs.

    In der nachfolgend verlinkten Artikelserie habe ich auch ein eigenes Verfahren wg. wissenschaftlichem Fehlverhalten dokumentiert, das bei Interesse gerne zum Vergleich herangezogen werden kann:

    https://www.hintergrund.de/allgemein/der-karlatan-eine-serie-von-hintergrund/

    https://www.corodok.de/der-aufstieg-karlatans

    Ich rege an, die vorsichtig formulierten Zweifel in diesem Fall zugunsten einer grundsätzlich härteren Gangart aufzugeben.

    Wer schweigt, stimmt zu.
    Wer kritisiert, fliegt raus.
    Wer betrügt, steigt auf.

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