KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V.

Aufsatzhinweis: Lucenti, Keine „Lex-COVID-19“ für Corona-Maßnahmen

Die Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) – eine bedeutende juristische Fachzeitschrift – veröffentlichte am 10. März 2023 einen gleichermaßen sehr lesenswerten wie umfangreichen zweiteiligen Onlineaufsatz des Rechtsanwalts Sebastian Lucenti mit dem Titel Keine „Lex-COVID-19“ für Corona-Maßnahmen – Teil I und Teil II.[1] Darin nimmt der Autor u.a. eine Analyse der gerichtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung von Corona-Maßnahmen vor.

Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber seinen staatlichen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum – entgegen den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2021 („Bundesnotbremse I und II“), vom 10.2.2022 und vom 27.4.2022 („COVID-19-Impfpflicht I und II“) – längst überschritten habe. Eine Vielzahl von gesetzlichen Bestimmungen hielten bei einer umfassenden Sachverhaltsauswertung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht stand. Dies gelte umso mehr bei einer sorgfältig durchgeführten gerichtlichen Beweisaufnahme.

Weiter stellt er fest, Gesetzgeber und Exekutive hätten bei der Beurteilung der Gefährdungslage durch COVID-19 und bei der Auswahl der Mittel eine Vielzahl vermeidbarer systemischer Fehler begangen, indem sie rationale differenzierte Grundüberlegungen außer Acht ließen.

Er resümiert, Teile der Bevölkerung dürften nicht als menschliche Schutzschilde für einen anderen Teil der Bevölkerung eingesetzt werden, schon gar nicht Kinder und Jugendliche.

Die mit staatlichen Corona-Maßnahmen befassten Gerichte seien eindringlich aufgerufen, den maßgeblichen Sachverhalt selbständig zu ermitteln und die Richtigkeit der Empfehlungen und Daten weisungsgebundener staatlicher Einrichtungen kritisch zu prüfen – so insbesondere diejenigen des Robert Koch-Instituts (RKI) und des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), die zudem maßgeblichen Einfluss auf die gerichtlich zu überprüfende Gesetzgebung und den Verordnungserlass hatten. Eine richterliche Sachprüfung mit offenen Augen sei zumeist ausgeblieben. Eine rasche kritische Aufarbeitung der Corona-Rechtsprechung sei notwendig.

Der Autor kommt zu dem Schluss, das Infektionsschutzgesetz sei im Hinblick auf die Feststellung und Bewältigung einer medizinischen Notlage evidenzbasiert zu reformieren. Es bedürfe objektivierbarer messbarer Kennzahlen und klar definierter evidenzbasierter Kriterien für die Bestimmung einer medizinischen Notlage von nationaler Tragweite und gestufter Schutzmaßnahmen.

Dem RKI und PEI müsse die ihnen zugewiesene alleinige Datenerhebungs- und Datendeutungshoheit entzogen werden. Deren Stellung und Gewichtung im Rahmen des § 4 IfSG sei auf eine Stimme eines weisungsunabhängigen interdisziplinär besetzten Expertengremiums außerhalb des Einflussbereichs des Bundesgesundheitsministeriums zu reduzieren.

Das Nutzen-Schaden-Verhältnis der Schutzimpfungen gegen COVID-19 müsse von einem weiteren unabhängigen und nicht personenidentischen interdisziplinären Expertenrat evaluiert werden. Ebenso sei die Umstellung des passiven Meldesystems von Impfnebenwirkungen in ein flächendeckendes aktives Monitoring mit Datenzugriffsrechten erforderlich, im Rahmen dessen das PEI ein Mitglied eines unabhängigen Gremiums zur Bewertung der Arzneimittelsicherheit sei.


[1] Beide Teile des auch für die interessierte Öffentlichkeit geeigneten Aufsatzes sind kostenfrei abrufbar unter https://rsw.beck.de/zeitschriften/nvwz/nvwz-extra-aufs%C3%A4tze-online (zuletzt aufgerufen am 2.4.2023).