KRiStA – Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V.

Vereinbarkeit einer gesetzlichen Impfpflicht mit der EMRK

Anmerkung zu EGMR, Urteil vom 08.04.2021, Az. 47621/13

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit Urteil vom 08.04.2021 (Große Kammer, Az. 47621/13 u. a. / Vavřička ./. Tschechien, auszugsweise übersetzt und abgedruckt in: NJW 2021, 1657 ff.) entschieden, dass die in der Tschechischen Republik geltende nationale Impfpflicht für Kinder grundsätzlich mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar ist. Dem Urteil wird für die seit dem 01.03.2020 in Deutschland geltende Masernimpfpflicht Signalwirkung beigemessen. Über die hier anhängigen Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Auf eine mögliche allgemeine Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 ist die Entscheidung des EGMR allerdings im Ergebnis nicht übertragbar.

A. Zum Sachverhalt

In der Tschechischen Republik besteht eine allgemeine gesetzliche Pflicht, Kinder gegen insgesamt neun Infektionskrankheiten (Diphterie, Tetanus, Keuchhusten, Infektionen mit Haemophilus influenzae Typ b, Poliomyelitis, Hepatitis B, Masern, Mumps, Röteln) impfen zu lassen. Die Impfpflicht ist im Gesundheitsschutzgesetz (PHP-Gesetz, Nr. 258/2000) und darauf basierenden untergesetzlichen Normen geregelt. Die Kosten für die Impfungen werden von der Krankenkasse übernommen. Für etwaige Impfschäden leistet der Staat eine Entschädigung. Verweigern Eltern die Impfung ihrer Kinder ohne anerkannte Gründe, können sie einmalig mit einer Geldstrafe belegt werden. Eine zwangsweise Durchführung der Impfung erfolgt nicht. Vorschuleinrichtungen dürfen keine Kinder aufnehmen, die nicht nach dem gesetzlich vorgeschriebenen Impfprogramm geimpft sind. Kinder, die bereits ohne Impfung immun sind oder die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können, sind von der Impfpflicht ausgenommen.

Der Beschwerdeführer zu 1) hatte sich geweigert, seine beiden Kinder gegen Poliomyelitis, Hepatitis B und Tetanus impfen zu lassen. Gegen die daraufhin verhängte Geldstrafe war er nach staatlichem Recht erfolglos vorgegangen. Bei den weiteren fünf Beschwerdeführern handelte es sich um Kinder, denen mangels der vorgeschriebenen Impfungen jeweils die Aufnahme in den Kindergarten verweigert worden war. Auch sie waren mit ihren dagegen vor den nationalen Gerichten erhobenen Klagen gescheitert.

B. Zu den Entscheidungsgründen

1. Der EGMR hat sich in wesentlichen Teilen seiner Entscheidung mit der Vereinbarkeit der Impfpflicht für Kinder mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK befasst. Art. 8 EMRK lautet:

(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

a) Der Schutzbereich ist eröffnet, denn das Recht auf Achtung des Privatlebens i. S. des Art. 8 Abs. 1 EMRK umfasst das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

b) Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK liegt vor. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass eine verpflichtende Impfung im Wege der erzwungenen medizinischen Behandlung durchgesetzt wird (s. dazu EGMR, Urteil v. 15.03.2012, Az. 24429/03 – Solomakhin ./. Ukraine m. w. N.). Ein Eingriff kann vielmehr bereits auch dann vorliegen, wenn der Betroffene die unmittelbaren Konsequenzen der Ablehnung der Impfpflicht tragen muss. Sei es, weil einem ungeimpften Kind die Aufnahme in den Kindergarten verweigert oder weil Eltern eine Geldbuße auferlegt wird, weil sie es unterlassen, ihr Kind zu impfen, obwohl sie nach staatlichem Recht dazu verpflichtet sind.

c) Der EGMR bewertet den Eingriff im konkreten Fall als gerechtfertigt.

(a) Er ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK „gesetzlich vorgesehen“. Der Begriff „gesetzlich“ muss hier als „geschriebenes Recht“ verstanden werden, das nicht nur das formelle Recht, sondern – im materiellen Sinne – auch Rechtsakte und Regelungen auf einer niedrigeren Stufe erfasst. So war die Impfpflicht im tschechischen Recht als „gesetzlich vorgesehen“ i. S. des Art. 8 Abs. 2 EMRK anzuerkennen, obwohl sie auf einer Kombination von formellem Gesetz und einer ministeriellen Verordnung beruht.

(b) Das berechtigte Ziel der maßgeblichen tschechischen Regelungen zur Impfpflicht ist der „Schutz gegen Krankheiten, die eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit darstellen können“, mithin der Schutz der Gesundheit i. S. des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Dies gilt nach Ansicht des EGMR zum einen für die, die die Impfungen erhalten, und zum anderen für die, die nicht geimpft werden können und deshalb gefährdet sind. Letztere sind zum Schutz vor ansteckenden Krankheiten auf eine hohe Impfquote in der gesamten Gesellschaft angewiesen.

(c) Ein Eingriff ist „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“,um ein berechtigtes Ziel zu erreichen, wenn er einem „dringenden sozialen Bedürfnis“ entspricht. Die Gründe, die die staatlichen Organe zur Rechtfertigung anführen, müssen insbesondere „stichhaltig und ausreichend“ und der Eingriff verhältnismäßig zu dem verfolgten berechtigten Ziel sein.

(1) In Fragen der Gesundheitspolitik haben die staatlichen Organe einen Beurteilungsspielraum.

Speziell betreffend die Impfpflicht bei Kindern besteht nach dem EGMR ein weites Ermessen. Denn zum einen erkennt der EGMR in der Impfpflicht, die nicht mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt wird, keinen Fall der wirksamen Wahrnehmung von intimen Rechten. Weiter gebe es (1.) einen allgemeinen Konsens zwischen den Konventionsstaaten darüber, dass Impfungen zu den erfolgreichsten und kostengünstigsten Maßnahmen der Gesundheitspolitik zählen und dass jeder Staat danach streben sollte, eine möglichst hohe Impfquote in der Bevölkerung zu erreichen. Dies werde durch die fachlich spezialisierten internationalen Einrichtungen unterstützt. Keinen solchen Konsens gebe es allerdings (2.) über die Frage, mit welchen Mitteln dieses „relativ bedeutende Interesse“ geschützt werden soll. Bzgl. der Impfung von Kindern sei bei den Konventionsstaaten ein ganzes Spektrum von Modellen vorhanden, darunter solche, die ausschließlich auf Empfehlungen beruhen, ferner solche, die zu einer oder zwei Impfungen verpflichteten, und schließlich solche, die die vollständige Impfung der Kinder zu einer Pflicht erheben. Dieser fehlende Konsens begründet den weiten Ermessensspielraum.

(2) Die Entscheidung des tschechischen Gesetzgebers, Impfpflichten für Kinder einzuführen, ist die Antwort auf das dringende soziale Bedürfnis, die individuelle und öffentliche Gesundheit gegen die in Rede stehenden Krankheiten zu schützen und einen Rückgang der Impfquote bei Kindern zu verhindern. Zur Begründung stellt der EGMR zunächst fest, dass die Konventionsstaaten der positiven Pflicht vor allem aus Art. 2 und Art. 8 EMRK unterliegen, angemessene Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit für alle innerhalb ihrer Hoheitsgewalt zu schaffen (Verweis auf EGMR Urteil v. 09.06.1998, Az. 23413/94 – LCB ./. Vereinigtes Königreich; Entscheidung v. 02.12.2008, Az. 42994/05 – Furdik ./. Slowakei m. w. N.; Urteil v. 27.03.2018, Az. 10491/12 – Ibrahim Keskin ./. Türkei; Urteil v. 17.09.2020, Az. 62439/12, Kotilainen u.a. ./. Finnland). Im Verfahren hatte die tschechische Regierung fachspezifische Unterlagen vorgelegt, welche die feste Überzeugung der staatlichen Gesundheitsbehörden wiedergeben, dass die Impfung von Kindern eine Rechtspflicht bleiben sollte und nicht nur eine Empfehlung, da ein möglicher Rückgang der Impfquote ein Risiko für die individuelle und öffentliche Gesundheit darstelle. Die Bedenken bzgl. des Risikos des Rückgangs der Impfquote haben auch die weiteren beteiligten Regierungen geltend gemacht. Sie sind auch auf europäischer und internationaler Ebene erhoben worden. Die fachlich ausgewiesenen Stellen haben hierzu eine klare Position eingenommen.

(3) Die Gründe des öffentlichen Gesundheitsschutzes, welche die staatlichen Organe zur Rechtfertigung der Impfpflicht anführen, sind „stichhaltig und ausreichend“: Sie betreffen insbesondere die Wirksamkeit und Sicherheit der Impfung im Kindesalter. Zum Kindeswohl, das die Staaten bei allen Entscheidungen, welche die Gesundheit und Entwicklung der Kinder betreffen, in das Zentrum ihrer Überlegungen zu stellen haben (vgl. Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention), führt der EGMR aus:

Bei der Immunisierung muss das Ziel sein, dass jedes Kind gegen gefährliche Krankheiten geschützt wird. In der großen Mehrheit der Fälle wird dies durch die Impfung nach dem vollständigen Impfprogramm in den ersten Lebensjahren der Kinder erreicht. Diejenigen, die nicht geimpft werden können, werden indirekt gegen ansteckende Krankheiten geschützt, sofern die erforderliche Impfquote in ihrer Umgebung aufrechterhalten wird; ihr Schutz entsteht durch die Herdenimmunität. Kommt ein Staat zu der Auffassung, dass freiwillige Impfungen nicht ausreichen, um die Herdenimmunität zu erreichen und zu erhalten, oder wenn Herdenimmunität bei bestimmten Krankheiten (z. B. Tetanus) nicht wirkt, kann es vernünftig sein, wenn er eine Impfpflicht einführt, um eine angemessene Impfquote zum Schutz gegen gefährliche Krankheiten zu erreichen. Nach dem Verständnis des Gerichtshofs basiert die Gesundheitspolitik des beklagten Staates auf derartigen Überlegungen, weshalb sie als vereinbar mit dem Kindeswohl, auf das sie abzielt, angesehen werden kann.

(4) Der EGMR stellt fest, dass die Impfpflicht im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig ist. Zur Begründung verweist das Gericht zunächst darauf, dass von der Impfpflicht nur Impfungen gegen Krankheiten betroffen sind, die durch die Wissenschaft als „wirksam und sicher“ angesehen werden. Die Impfpflicht stellt nach dem nationalen Recht des beklagten Staates auch keine absolute Pflicht dar: Ausnahmen sind für Kinder mit einer dauernden Kontraindikation für Impfungen vorgesehen. Ferner besteht im beklagten Staat nach der Rechtsprechung des nationalen Verfassungsgerichtshofs ein „Recht auf Impfverweigerung aus Gewissensgründen“. Auf die Ausnahmen geht der EGMR sodann allerdings nicht näher ein, da sich im Verfahren kein Beschwerdeführer darauf berufen hatte.

Für die Verhältnismäßigkeit der Impfpflicht führt der EGMR weiter an, dass die Impfung nach nationalem Recht nicht durch unmittelbaren Zwang durchgesetzt werden kann, da dafür keine Rechtsgrundlage vorliege. Die Pflicht wird vielmehr indirekt durch Sanktionen durchgesetzt. Die Sanktion in der Tschechischen Republik sei „verhältnismäßig moderat“, da sie aus einer Geldbuße besteht, die nur einmal verhängt werden darf. Dass ungeimpfte Kinder von der Kindergartenerziehung ausgeschlossen werden, sei nicht als Sanktion oder Strafe anzusehen: Diese Maßnahme diene allein dem Schutz der ungeimpften Kinder, deren Gesundheit mit dem Ausschluss gesichert werden soll.

Ein verfahrensrechtlicher Schutz sei im staatlichen Recht gewährleistet: Den Betroffenen, die gegen die Impfpflicht verstoßen und die deswegen staatlichen Sanktionen ausgesetzt sind, stehen sowohl verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe als auch gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung. Der verfahrensrechtliche Schutz bestehe auch nicht nur formal: Der tschechische Verfassungsgerichtshof habe eine inhaltliche grundrechtliche Prüfung der Impfpflicht vorgenommen und eine verfassungsrechtliche Ausnahme von der allgemeinen Pflicht entwickelt („Recht auf Impfverweigerung aus Gewissensgründen“), die als sinnvoller Schutz angesehen werden müsse. Der nationale Verfassungsgerichtshof habe ferner festgehalten, dass die Umstände jedes einzelnen Falles auf das Genaueste geprüft werden müssten, um Grundrechte wirksam zu schützen, die mit dem öffentlichen Interesse im Widerstreit stehen.

Der Gerichtshof setzt sich im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit mit weiteren konkreten Einwänden der Beschwerdeführer auseinander:

Ausdrücklich betont der Gerichtshof zunächst nochmals, dass der weite Spielraum der Exekutive zur Entwicklung und Umsetzung der Gesundheitspolitik keine rechtlichen Bedenken aufwerfe. Die Behörden hätten damit die Möglichkeit, flexibel auf die epidemiologische Situation und auf Entwicklungen in der medizinischen Wissenschaft und der Pharmakologie zu reagieren. Nicht substantiiert genug hätten die Beschwerdeführer zu ihren Vorwürfen vorgetragen, das staatliche System sei durch Interessenskonflikte belastet, und die Standpunkte, welche die zuständigen sachverständigen nationalen Stellen oder die WHO zu Impfungen eingenommen haben, seien durch finanzielle Zuwendungen der pharmazeutischen Industrie beeinträchtigt. Das staatliche System sei hinreichend transparent: Die Protokolle der Sitzungen der Nationalen Impfkommission seien auf der Webseite des Gesundheitsministeriums veröffentlicht. Dass die Nationale Impfkommission ausschließlich mit Sachverständigen besetzt ist, die unter der Aufsicht des Gesundheitsministeriums handeln und die letztlich der Legislative verantwortlich sind, begründe keinen ernsthaften Mangel an Transparenz, der die Eignung der Impfpolitik der Tschechischen Republik in Zweifel ziehen könnte.

Hinsichtlich der Wirksamkeit der Impfungen weist der Gerichtshof nochmals auf den existierenden allgemeinen Konsens über die maßgebliche Bedeutung von Impfungen für den Schutz der Bevölkerung gegen Krankheiten hin, die ernstliche Auswirkungen auf die individuelle Gesundheit haben und bei schwerwiegenden Ausbrüchen schwerste Beeinträchtigungen der Gesellschaft verursachen können.

Hinsichtlich der Sicherheit der Impfungen sieht es der Gerichtshof als zutreffend an, dass sich Impfungen in wenigen Fällen für eine Person als gefährlich erweisen und ernste, andauernde Gesundheitsschäden verursachen können: Nach Angaben der tschechischen Regierung käme es bei ca. 100.000 geimpften Kindern (also ca. 300.000 Impfungen) im Jahr zu fünf oder sechs Fällen schwerer, ggf. lebenslanger Gesundheitsschäden. Deshalb seien Vorsichtsmaßnahmen von zentraler Bedeutung: In jedem Fall müssten (1.) mögliche Kontraindikationen geprüft werden und (2.) müsse die Sicherheit der verwendeten Impfstoffe überwacht werden. Das staatliche tschechische System komme dem nach: Die Impfungen würden durch medizinische Fachkräfte verabreicht, die vor jeder Impfung routinemäßig überprüften, ob eine Kontraindikation vorliege. Die Impfstoffe müssten bei der staatlichen Behörde für Medikamentenüberwachung registriert werden. Ferner sei jeder Beschäftigte im Gesundheitswesen verpflichtet, jeglichen Verdacht auf schwere oder unerwartete Nebenwirkungen zu melden.

Als einen wesentlichen Punkt bei der umfassenden Beurteilung eines Systems mit Impfpflicht bezeichnet der Gerichtshof die Möglichkeit von Entschädigungen bei Impfschäden. In den entschiedenen Fällen hatte diese Frage allerdings keine entscheidende Bedeutung, denn kein Beschwerdeführer war gegen seinen Willen tatsächlich geimpft worden. Die Frage sei für die Beschwerdeführer für ihre Ablehnung der Impfpflicht nicht wirklich relevant gewesen.

2. Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit gewährleistet Art. 9 EMRK:

(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Mehrere Beschwerdeführer begehrten den Schutz durch Art. 9 EMRK für ihre kritische Haltung gegenüber Impfungen, ohne sich darauf zu berufen, dass diese religiöser Natur sei. Die Gedanken- und Gewissensfreiheit schützt nur Überzeugungen oder Weltanschauungen von ausreichender Stärke, Ernsthaftigkeit, Festigkeit und Bedeutung. Allein Bedenken gesundheitlicher Art gegen die Impfpflicht lässt der Gerichtshof hierfür nicht genügen. Die Beschwerdeführer hätten etwaige philosophische oder religiöse Aspekte erläutern und hierzu substantiiert vortragen müssen, was nicht geschehen war.

C. Auswertung mit Blick auf eine mögliche allgemeine Pflicht zur Impfung gegen das SARS-CoV-2

Festzuhalten ist vorab, dass sich der EGMR allein mit der Vereinbarkeit einer Impfpflicht für Kinder mit der EMRK befasst hat. Bereits aus diesem Grund sind die tragenden Entscheidungsgründe nicht unbesehen auf andere Fallgestaltungen übertragbar.

In formeller Hinsicht legt der EGMR die Wendung „gesetzlich vorgesehen“ (Art. 8 Abs. 2 EMRK) weit aus und lässt insoweit ein Impfprogramm genügen, das in einem (formellen) Gesetz i. V. m. einer ministeriellen Verordnung geregelt ist. Sollte allerdings – wie im Falle der Impfung gegen SARS-CoV-2 – nicht abschließend feststehen, welcher konkrete Impfstoff mit welcher Anzahl von Impfdosen in welchen Abständen und in welchen Auffrischungsintervallen für eine ausreichende Immunisierung erforderlich sein soll1, so wird der Ausdruck „gesetzlich vorgesehen“ möglicherweise überdehnt, wenn nachgeordnete Behörden durch Verordnung dazu ermächtigt werden, über diese zentralen Fragen abschließende Entscheidungen zu treffen. Das der Impfpflicht zugrundeliegende formelle Gesetz darf nicht als inhaltsleeres Gerüst ausgestaltet sein, das grundlegende Regelungen eine Behörde treffen lässt, die außerhalb der demokratischen Legitimationskette steht.

In materieller Hinsicht betont der EGMR die hohe Bedeutung des Kindeswohls, das Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention (Recht auf Gesundheit) absichert. Folge ist, dass der als legitim anerkannte Zweck der Impfpflicht nicht nur die Herstellung einer sog. Herdenimmunität zum Schutz derjenigen Kinder ist, die nicht geimpft werden können. Vielmehr verfolgt z. B. auch die Pflicht zur Impfung gegen Tetanus, die dem Individualschutz dient, ein berechtigtes Ziel. Ob der EGMR auch im Falle verpflichtender Impfungen für Erwachsene zu diesem Ergebnis kommen würde, ist offen: Ein mit dem Kindeswohl korrelierendes besonders schützenswertes „Menschenwohl“, das eine medizinische Zwangsbehandlung gegen den frei gebildeten Willen einer aufgeklärten Person rechtfertigen könnte, existiert selbst dann nicht, wenn die Behandlung nebenwirkungsfrei und nach objektiven Maßstäben ausschließlich dem Wohle des Patienten zu dienen bestimmt wäre. Hier gilt das Recht auf körperliche Selbstbestimmung2, das die individuelle Entscheidung umfasst, eine Impfung als (Selbst-)Schutz abzulehnen.

Das „dringende soziale Bedürfnis“ (Art. 8 Abs. 2 EMRK) wird sich im Falle einer allgemeinen Impfpflicht gegen SARS-CoV-2 nicht mit der „festen Überzeugung“ der staatlichen Gesundheitsbehörden begründen lassen, dass eine Impfpflicht zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Impfquote – i. S. der Erhaltung des Status quo – erforderlich ist, weil mit einem ansonsten zu befürchtenden Rückgang der Impfquote ein Risiko für die individuelle und öffentliche Gesundheit einhergehen würde. Bezogen auf die Impfung gegen SARS-CoV-2 wäre vielmehr darzulegen, dass eine Erhöhung der Impfquote als erforderlich angesehen wird, um ein angenommenes und zukünftig zu erwartendes Risiko für die individuelle und öffentliche Gesundheit zu verhindern, das hier konkret nur in einer ansonsten womöglich drohenden Überlastung des Gesundheitssystems gesehen werden kann. Eine solche Überlastung im bisherigen Pandemieverlauf drohte bisher aber zu keinem Zeitpunkt, so dass keine fachspezifische Unterlagen eine solche tatsächliche Gefahr belegen könnten. Dies gilt auch bei Annahme eines weiten Beurteilungsspielraums. Dieser berechtigt die staatlichen Behörden nicht dazu, eine befürchtete Entwicklung von der Realität vollständig abzukoppeln. So ist seit Januar 2022 unbestritten, dass die sog. Omikron-Variante auch ohne die inzwischen zur Verfügung stehenden Heilmittel weniger schwere Krankheitsverläufe verursacht3. Der von der Fachwissenschaft prognostizierte weitere Verlauf ist zur Kenntnis zu nehmen: Es erscheint nach den bisherigen Erfahrungen wenig wahrscheinlich, dass eine Variante mit höherer Pathogenität als Omikron auftauchen wird4.

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind die folgenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen, in denen sich die aktuelle Situation von dem Sachverhalt, den der EGMR zu beurteilen hatte, wesentlich unterscheidet:

– Nach den im Bundestag am 07.04.2022 zuletzt beratenen Gesetzesentwürfen zur Einführung einer allgemeinen Pflicht zur Impfung gegen SARS-CoV-25 war die wiederholte Verhängung der Geldbuße von bis zu 2.500,00 € im Falle einer Pflichtverletzung nicht ausgeschlossen6. Daneben wäre im Verwaltungsvollstreckungsverfahren auch die wiederholte Verhängung eines Zwangsgeldes möglich gewesen7.

– Nach tschechischem Recht unterliegen Kinder der Impfpflicht nicht, wenn sie eine natürliche Immunität nachweisen können. Der Auslöser oder der Zeitpunkt einer vorherigen Infektion, die zur Immunität geführt haben, müssen hierfür nicht bekannt sein.

– Die Kinderimpfungen, über die der EGMR zu entscheiden hatte, sind seit vielen Jahren erforscht. Die Impfstoffe sind regulär zugelassen. Der Nutzen der Impfungen, die Risiken und ihre Wirkungen sind bekannt. Demgegenüber stellen die zur Verfügung stehenden Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 keine „herkömmlichen“ Impfungen dar. Unklar ist zudem, ob eine Impfung mit den aktuell eingesetzten Impfstoffen im Herbst überhaupt noch eine Wirkung entfaltet: Virologen können nicht vorhersehen, welche Varianten des Coronavirus im Laufe des Jahres noch entstehen werden. Ungeachtet dessen ist die Anwendung der Impfstoffe mit unüberschaubaren Risiken verbunden. Es treten erhebliche Nebenwirkungen auf. In Einzelfällen war die Impfung erwiesenermaßen tödlich8. Langzeitstudien fehlen. Dass für die Auswertung von Impfnebenwirkungen ein praxistaugliches Meldesystem etabliert wurde, ist anzuzweifeln9. Auch erscheint zweifelhaft, dass das medizinische Personal in den Impfzentren mögliche Kontraindikationen und Risiken für besondere Nebenwirkungen anhand in kurzer Zeit geführter Anamnesegespräche hinreichend sorgfältig prüfen kann und darüber aufklärt10.

– Der EGMR hatte nach dem Vortrag der Beschwerdeführer keinen Anhaltspunkt für den Vorwurf, das staatliche (tschechische) System sei durch Interessenskonflikte belastet. Auch hatte er keinen weiteren Anhaltspunkt für die Annahme, dass die Standpunkte, welche die zuständigen sachverständigen nationalen Stellen oder die WHO zu Impfungen eingenommen haben, durch finanzielle Zuwendungen der pharmazeutischen Industrie beeinträchtigt seien. Die Entscheidung des EGMR lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass entsprechende Vorwürfe im Falle einer verpflichtenden Impfung gegen SARS-CoV-2 nicht substantiiert vorgetragen werden können.

– Ein allgemeiner Konsens darüber, dass die zu bekämpfende Krankheit (COVID) auch im kommenden Herbst noch ernstliche Auswirkungen auf die individuelle Gesundheit haben wird und bei schwerwiegenden Ausbrüchen schwerste Beeinträchtigungen der Gesellschaft verursachen kann, besteht nicht.

– Bei substantiiertem Vortrag zur individuellen Überzeugung, auf der die Ablehnung der Impfung beruht, erscheint nicht ausgeschlossen, dass der EGMR die Berufung auf das Recht auf eine „Impfverweigerung aus Gewissensgründen“ (Art. 9 EMRK) anerkennen würde, insbesondere dann, wenn sich die Überzeugung plausibel in umfassende und sinnstiftende – philosophische oder religiöse – Lebensgrundsätze einfügt.

Endnoten

1 Eine Änderung und Anpassung der anerkannten Impfschemata wird laufend erforderlich sein, da die Wirkung der zur Verfügung stehenden Impfstoffe gegen das stets mutierende Coronavirus nachlässt.

2 Die körperliche, psychische und soziale Integrität des Einzelnen ist als Voraussetzung jeder persönlichen Entfaltung Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK (Gaede, in: MüKo-StPO, München 2018, Art. 8 EMRK Rn. 12 m. w. N. zur Rechtsprechung des EGMR).

3 So z. B. Prof. Dr. Christian Drosten (Charité Berlin), https://www.n-tv.de/panorama/Prof-Drosten-sieht-Omikron-als-Chance-Naht-ein-Ende-der-Pandemie-article23062067.html (abgerufen am 05.04.2022).

4 S. beispielhaft die Einschätzungen der Virologen Prof. Dr. Ulf Dittmer (Universitätsklinikum Essen),

https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/corona-omikron-grippe-vierte-impfung-100.html und Prof. Dr. Ulrike Protzer (Technische Universität München), https://www.focus.de/gesundheit/news/nach-omikron-welle-virologin-protzer-haelt-gefaehrlichere-corona-varianten-fuer-extrem-unwahrscheinlich_id_73206714.html (jeweil abgerufen am 05.04.2022).

5 BT-Drs. 20/899 (Entwurf eines Gesetzes zur Aufklärung, Beratung und Impfung
aller Volljährigen gegen SARS-CoV-2) und BT-Drs. 20/954 (Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer verpflichtenden Impfberatung für Erwachsene und einer altersbezogenen Impfpflicht ab 50 Jahren unter Vorbehalt gegen das Coronavirus SARS-CoV-2), formal zusammengeführt: BT-Drs. 20/1353 (Entwurf eines Gesetzes zur Pandemievorsorge durch Aufklärung, verpflichtende Impfberatung und Immunisierung der Bevölkerung gegen SARS-CoV-2).

6 Die wiederholte Verhängung einer Geldbuße kommt bei einer Dauerordnungswidrigkeit in Frage, wenn eine bestands- oder rechtskräftige Entscheidung vorliegt oder wenn ein neu gefasster (Unterlassungs-) Entschluss anzunehmen ist (vgl. OLG Dresden NStZ-RR, 314). Die Anordnung von Erzwingungshaft nach § 96 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) soll nicht möglich sein.

7 Die Anordnung von Ersatzzwanghaft soll ausgeschlossen sein.

8 S. hierzu: KRiStA, Impfnebenwirkungen und Menschenwürde – Warum eine Impfpflicht gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstößt, https://netzwerkkrista.de/2021/12/17/impfnebenwirkungen-und-menschenwuerde-warum-eine-impfpflicht-gegen-art-1-abs-1-gg-verstoesst/.

9 S. https://www.berliner-zeitung.de/news/impffolgen-krankenkasse-bkk-schreibt-brief-an-paul-ehrlich-institut-li.213676 (abgerufen am 11.04.2022).

10 Beispielsweise findet sich auf der Internetseite des Landkreises Harz (Niedersachsen) zur „Impfung gegen das Coronavirus“ im Impfzentrum Quedlingburg die Angabe: „Das Impfen im Impfzentrum dauert ungefähr 20 Minuten.“ (https://www.kreis-hz.de/de/impfung/wie-lange-dauert-der-termin-im-impfzentrum.html, abgerufen am 11.04.2022).