„Die Menschen dieses Landes sind keine Untertanen.“ – Hans-Jürgen Papier

Aufsatz: Corona-Maßnahmen vor dem Familiengericht – eine ungewöhnliche Entwicklung

Die Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 sind nun bereits seit über einem Jahr allgegenwärtig und machen auch vor den Kindschaftssachen nicht halt. In der Regel lassen sich die zugrunde liegenden Fragen mit dem altbekannten familienrechtlichen Instrumentarium gut bewältigen, insbesondere sachlich und am Kindeswohl orientiert.

Umso erstaunlicher sind die aktuellen Vorgänge rund um zwei familiengerichtliche Entscheidungen1Amtsgericht Weimar, Beschluss vom 08.04.2021, 9 F 148/21, juris; Amtsgericht Weilheim, Beschluss vom 13.04.2021, 2 F 192/21, juris., welche kontrovers diskutiert werden und extreme Gegenreaktionen2Siehe VGH München, Beschluss vom 16.04.2021, 10 CS 21.1113, juris, Amtsgericht Leipzig, Beschluss vom 15.04.2021, 335 F 1187/21. hervorgerufen haben. Die zugrunde liegende familienrechtliche Konstellation soll im folgenden Beitrag näher beleuchtet werden.

I.             Ausgangspunkt der Verfahren

Ausgangspunkt beider Verfahren waren Anregungen nach § 1666 BGB. Bei Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls gemäß § 1666 BGB handelt es sich um echte Amtsverfahren im Sinne von § 24 FamFG. Diese können sowohl auf Anregung von Personen oder Institutionen eingeleitet werden (was regelmäßig z. B. auf Anregung des Jugendamtes, eines Elternteils, eines Arztes oder des Kindes selbst geschieht) als auch von Amts wegen unmittelbar durch das Gericht (Hammer in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 151 FamFG, Rn. 39).

Schon nach früherem Recht hatte das Familiengericht nach Hinweisen und Anzeigen aller Art ein Verfahren nach § 1666 BGB zu eröffnen und von Amts wegen Ermittlungen anzustellen, sofern hierfür „bei sorgfältiger Überlegung Anlass“ bestand (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666, Rn. 88); diese Einleitungsschwelle für Kindesschutzermittlungen entspricht den „gewichtigen Anhaltspunkten für die Gefährdung“ des § 8a Abs 1 SGB VIII und der „möglichen Gefährdung“ des § 157 Abs. 1 FamFG. Ob diese Einleitungsschwelle durch bestimmte bekannt gewordene Tatsachen überschritten ist oder nicht, entscheidet der zuständige Familienrichter im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit.

Stellt das Gericht nach der Vorprüfung fest, dass ausreichend Anlass zu einer Verfahrenseinleitung besteht, ist es verpflichtet, das Verfahren einzuleiten (Ahn-Roth in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 24 FamFG). Folgt das Gericht der Anregung nach Absatz 1 nicht, hat es denjenigen, der die Einleitung angeregt hat, darüber zu unterrichten, soweit ein berechtigtes Interesse an der Unterrichtung ersichtlich ist, § 24 Abs. 2 FamFG.

Im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegt es auch, ob es ein Hauptsacheverfahren oder wegen besonderer Dringlichkeit sogleich (auch oder nur) ein Anordnungsverfahren nach §§ 49 ff FamFG einleitet (Hammer in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 157 FamFG, Rn. 9).

II.          Verfahrensgang

Ist das Verfahren durch das Gericht eingeleitet worden, hat das Gericht gemäß § 26 FamFG von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. In Verfahren der einstweiligen Anordnung kann das Gericht gemäß § 49 FamFG eine vorläufige Maßnahme treffen, soweit dies nach den für das Rechtsverhältnis maßgebenden Vorschriften gerechtfertigt ist und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht. Dies kann auch ohne vorherige mündliche Verhandlung geschehen (§ 51 Abs. 2 Satz 2 FamFG). Die gesetzlich vorgesehenen persönlichen Anhörungen können bei Gefahr in Verzug nachgeholt werden, §§ 159 Abs. 3 Satz 2, 160 Abs. 4 FamFG.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht im Ermessen des Gerichtes, sondern bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 49 FamFG besteht eine Verpflichtung zu einer entsprechenden Entscheidung (Feskorn in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 49 FamFG). Die Notwendigkeit der unverzüglichen Prüfung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gemäß § 1666 BGB beruht auf der Rolle des Familiengerichtes im Rahmen des staatlichen Wächteramtes gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und wird in der deklaratorischen Regelung des § 157 Abs. 3 FamFG noch hervorgehoben (vgl. Hammer in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 157 FamFG).

Die Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung sind im einstweiligen Anordnungsverfahren umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. September 2015 – 1 BvR 1292/15 –, juris Rn. 20).

In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass während der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens nach § 1666 BGB sich die Hinweise und Feststellungen in Bezug auf eine Kindeswohlgefährdung derart verdichten, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und dessen zeitliche Nähe so groß erscheinen, dass ein weiteres Zuwarten nicht (mehr) vertretbar und daher direkt eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist. Geschieht dies im Zuge eines Erörterungstermins im Hauptsacheverfahren, ist diesbezüglich aufgrund der Eigenständigkeit des Verfahrens der einstweiligen Anordnung gemäß § 51 Abs. 3 Satz 1 FamFG ein selbständiges Verfahren einzuleiten, wobei Neueintragung des Verfahrens und die Anlegung einer neuen Verfahrensakte auch im Anschluss an den Termin erfolgen können (Hammer in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 157 FamFG, Rn. 31). Aber auch unabhängig von der Durchführung eines Erörterungstermins im Hauptsacheverfahren ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen, sobald die Ermittlungen ergeben, dass die Voraussetzungen der §§ 49 ff FamFG vorliegen.

Wann genau die Eingriffsschwelle des § 1666 BGB erreicht ist, entscheidet ebenso wie bei der Einleitung des Verfahrens der zuständige Richter im Rahmen seiner richterlichen Unabhängigkeit.

Gemessen an diesen allgemeinen Grundsätzen bewegen sich die beiden Entscheidungen verfahrensrechtlich klar im zulässigen Rahmen; offenbar waren die zuständigen Richter aufgrund der zum Zeitpunkt des Erlasses vorliegenden Feststellungen davon überzeugt, dass Wahrscheinlichkeit und zeitliche Nähe eines Schadenseintritts derart groß waren, dass sie sich nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sahen, eine diesbezügliche einstweilige Anordnung zu erlassen.

III.          Rechtsweg

Das Amtsgericht Waldshut-Tiengen (Beschluss vom 13. April 2021 – 306 AR 6/21 –juris) vertritt die Auffassung, bei Anträgen und Anregungen von Sorgeberechtigten auf Tätigkeitwerden des Gerichts gemäß § 1666 Abs. 4 BGB gegen schulische Anordnungen wie die Verpflichtung von Schülern zum Tragen von Mund-Nasen-Schutz, Abstandsgeboten und Testanordnungen in der Schule wegen behaupteter Kindeswohlbeeinträchtigungen handele es sich nicht um Kindschaftssachen im Sinne des FamFG. Vielmehr seien diese Verfahren gemäß § 17a GVG an die Verwaltungsgerichte zu verweisen.

Hierbei vermischt das Amtsgericht Waldshut-Tiengen jedoch die nachstehend aufzugreifende, berechtigte Frage, ob die Familiengerichte im Rahmen von Maßnahmen nach § 1666 BGB Gebote oder Verbote bezüglich der schulischen Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 wie Masken- und Testpflicht oder Abstandsgebote treffen können, oder nicht, mit der Frage des Rechtswegs. Genauso wie das Gewicht der etwaig zu treffenden Maßnahmen nicht maßgeblich für die Feststellung der Kindeswohlgefährdung ist und sich die Frage nach den erforderlichen und geeigneten Maßnahmen und nach deren Verhältnismäßigkeit erst stellt, wenn eine Kindeswohlgefährdung feststeht (BGH, Beschluss vom 23. November 2016 – XII ZB 149/16 –, BGHZ 213, 107-120, juris. Rn. 15), so ist auch die Frage der Verfahrenseinleitung und des Rechtswegs unabhängig davon, welche Maßnahmen etwaig erforderlich sind.

§ 17a GVG ist in echten Amtsverfahren wie dem Verfahren nach § 1666 BGB nicht anwendbar; eine Verweisung kommt aus der Natur der Sache heraus nicht in Betracht (Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 17a GVG, Rn. 21). Die Anwendung des § 17 a GVG durch das Familiengericht würde voraussetzen, dass eine Verweisung des Verfahrens nach den Verfahrensregeln überhaupt möglich ist, was nur in den echten Streitsachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit und den Antragsverfahren der Fall ist, denn bei den Amtsverfahren obliegt die Einleitung des Verfahrens der eigenständigen Entschließung des zuständigen Gerichtes (OLG Zweibrücken NJW-RR 99, 1682). Dies ergibt sich auch bereits eindeutig aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 16/6308, 318): „In Verfahren, die von Amts wegen einzuleiten sind, fehlt es bereits im Ausgangspunkt an der Beschreitung eines Rechtsweges, so dass für die Anwendung der Vorschrift in diesen Fällen von vornherein kein Raum ist.“

Für eine Anregung nach § 1666 BGB – gleich welchen Inhalts – ist daher das Familiengericht zuständig. Dieses entscheidet, ob es ein Verfahren einleitet oder nicht. Leitet es kein Verfahren ein, dann gibt es nichts, was verwiesen werden könnte oder müsste. Leitet es aufgrund eines mitgeteilten Sachverhalts ein Verfahren ein, kommt dann jedoch nach seiner Prüfung zu dem Ergebnis, dass keine familiengerichtlichen Maßnahmen angezeigt sind, dann hat es dies in einer Endentscheidung auszusprechen. Auch in diesem Falle ist für eine Verweisung an die Verwaltungsgerichte nach § 17a GVG kein Raum.

IV.        Tatbestandsvoraussetzungen: Kindeswohlgefährdung und Elternvorrang

1.    Kindeswohlgefährdung

Es soll im vorliegenden Beitrag ausdrücklich dahinstehen, ob und ggf. inwieweit durch bestimmte Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 an Schulen das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern gefährdet ist oder nicht. Vorliegend geht es nur um den rechtlichen Rahmen für Entscheidungen dieser Art und nicht um Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht. Die jeweils zuständigen Familiengerichte müssen mit Blick auf jedes einzelne Kind, mit dem sie befasst sind, ihre eigenen Feststellungen bezüglich einer Kindeswohlgefährdung treffen. Die daraus folgende Sachentscheidung ist Kernbestandteil der richterlichen Tätigkeit in Kindschaftssachen. Es verbietet sich in einem Rechtsstaat, zu dessen maßgeblichem Fundament die Unabhängigkeit der Justiz als Dritte Gewalt gehört, jegliche äußere Einmischung in die richterliche Entscheidung. Für die Korrektur etwaiger Fehlentscheidungen ist der Rechtsweg vorgesehen. „Nichtanwendungserklärungen“ und Medienschelte erscheinen demgegenüber wenig zielführend und zeugen von einem bedenklichen Mangel an Respekt gegenüber einer richterlichen Entscheidung und auch gegenüber den Feststellungen von gerichtlich bestellten Sachverständigen.

2.    Elternvorrang

Mit dem weiteren Merkmal des § 1666 Abs. 1 BGB, nämlich dass die Kindeseltern nicht bereit oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, kommt der Gesetzgeber den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nach: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Der Staat muss – auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten – den Eltern stets die Gelegenheit geben, die Gefahr selbst abzuwenden, bevor er an ihrer Stelle Maßnahmen ergreift.

Die Vorschrift des § 1666 BGB dient jedoch nicht lediglich dazu, etwaige Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit von Eltern oder sonstige Defizite des Elternhauses im Rahmen des staatlichen Wächteramtes nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG aufzufangen. Vielmehr ist diese Regelung Ausformung der nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch völkerrechtlich – insbesondere aufgrund der UN-Kinderkonvention – umfassend bestehenden Verpflichtung, Kinder zu schützen. Anknüpfungspunkt dafür sind die subjektiven, eigenen Rechte der Kinder. § 1666 BGB ist nicht nur Eingriffsnorm, sondern auch Schutznorm (BeckOGK/Burghart BGB § 1666 Rn. 9). Zum Schutz des persönlichen Wohls des Kindes können die Rechte der Eltern, das Kind zu erziehen, und das Recht des Kindes, nur von seinen Eltern erzogen zu werden, sowohl eingeschränkt als auch gegen die Beeinträchtigung durch Dritte gesichert werden (BeckOGK/Burghart BGB § 1666 Rn. 1).

Die Tatsache, dass die Konstellation von in der Erziehungsfähigkeit eingeschränkten Eltern in der familiengerichtlichen Praxis den häufigsten Anwendungsfall für familiengerichtliche Maßnahmen gemäß § 1666 BGB darstellt und daher auch in Rechtsprechung und Literatur viel Raum einnimmt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gesetzliche Konzeption sich gerade nicht auf solche Fälle beschränkt.

Der Rechtsschutz der Kinder ist im Vergleich zum allgemeinen, auf Erwachsene bezogenen zivilrechtlichen Rechtsschutzsystem bedingt durch die Fürsorge- und Entwicklungsbedürftigkeit von Kindern und die vorrangige Übertragung der umfassenden Verantwortung für das Kind auf seine Eltern in besonderer Weise ausgestaltet; demgemäß ist hinsichtlich des Kindesrechtsschutzes zu unterscheiden zwischen dem Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern einerseits und zu Dritten andererseits (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666, Rn. 10).

§ 1666 BGB wurde seit seiner Entstehung mehrfach geändert. Ursprünglich lautete § 1666 Abs. 1 Satz 1: „Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen.“ Von dieser allein auf Versäumnisse des Sorgeberechtigten abstellenden Sichtweise ist der Gesetzgeber bereits im Jahre 1980 abgerückt, indem er formulierte: „Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet, so hat das Vormundschaftsgericht, wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das Gericht kann auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.“

Durch das Nebeneinanderstellen der Alternativen „Versagen der Eltern“ und „Verhalten eines Dritten“ wird deutlich, dass es sich um zwei getrennte Tatbestandsmerkmale handelt; das Merkmal der Gefährdung durch das Verhalten eines Dritten kann unabhängig von einem etwaigen Versagen der Eltern verwirklicht werden. Im Zuge dieser Reform des § 1666 BGB wurde intensiv diskutiert, ob das Familiengericht (damals noch: Vormundschaftsgericht) direkt gegen einen das Kindeswohl gefährdenden Dritten vorgehen können sollte oder nicht (vgl. BT-Drucks 8/2788, 39, 59). Der Gesetzgeber hat sich für ersteres entschieden und festgehalten, dass dem Vorrang der Elternverantwortung dadurch Genüge getan werde, dass im familiengerichtlichen Verfahren jeweils die Weigerung oder Unfähigkeit der Eltern, die Gefahr abzuwenden, festgestellt werden müsse (BT-Drucks 8/2788, 39). Die Unfähigkeit der Eltern war dabei nicht auf Defizite in der Erziehungsfähigkeit beschränkt, sondern allgemein gefasst; zudem sollte es dem Gericht durch die Vorschrift ermöglicht werden, neben den Eltern direkt gegen den Dritten vorzugehen, da es für „nicht sachgerecht“ gehalten wurde, wenn die Eltern erst selbst gegen den Dritten den Zivilprozessweg beschreiten müssten oder das Gericht die Eltern zu prozessualen Maßnahmen gegen den Dritten anzuhalten hätte (BT-Drucks 8/2788, 39). Ergänzend zur verschuldensunabhängig gefassten Gefährdung wurde darauf abgestellt, dass die Eltern „nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden“, um dem grundgesetzlich garantierten Erziehungsvorrang der Eltern Rechnung zu tragen (BT-Drucks 8/2788, 58).

Bei der Schaffung der heutigen Fassung des § 1666 BGB im Jahr 2008 ging es dem Gesetzgeber dann in erster Linie darum, die Familiengerichte im Rahmen einer „Verantwortungsgemeinschaft“ mit dem Jugendamt früher einzubeziehen und ein konstruktiveres Tätigwerden mit einer Vielfalt möglicher Eingriffsmaßnahmen zu ermöglichen (BT-Drucks 16/6815, 1, 9). Hinsichtlich der Alternativität von Gefährdung durch Versagen der Eltern und Gefährdung durch einen Dritten gab es keinen Änderungsbedarf. Vielmehr wurde die Abkehr vom Verschuldensprinzip noch konsequenter umgesetzt, indem allein auf die objektiv bestehende Gefahr für das Kind abgestellt wurde, unabhängig davon, woher diese rührt. In der Gesetzesbegründung ist dazu festgehalten (BT-Drucks 16/6815, 10): „Da „das Wohl des Kindes den Richtpunkt für den Auftrag des Staates gemäß Art. 6 Abs. 2 GG“ (BVerfGE 24,119,144) bildet, muss die Gefährdung des Kindes der entscheidende Anknüpfungspunkt für das Eingreifen staatlicher Schutzmaßnahmen sein. Das Auftreten einer Schutzlücke wäre mit dem Grundrechtsschutz des Kindes als eigenständiger Persönlichkeit nicht vereinbar.“ Diese objektive Gefahr für das Kind umfasst die vorherigen Alternativen „Gefährdung durch Versagen der Eltern“ und „Gefährdung durch einen Dritten“ (vgl. MüKoBGB/Lugani BGB § 1666 Rn. 105).

Die Auffassung des Amtsgericht Waldshut-Tiengen (Beschluss vom 13. April 2021, 306 AR 6/21, juris), § 1666 BGB enthalte lediglich tatbestandlich begrenzte Ermächtigungen für Eingriffe des Staates in die Personen- und Vermögenssorge der Eltern, lässt den gerade mit der Reform des § 1666 BGB im Jahr 2008 durch den Gesetzgeber verfolgten Zweck des umfassenden Schutzes der Rechte des Kindes gänzlich außer Acht.

V.          Rechtsfolgenseite des § 1666 BGB

Gemäß § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet wird und die Eltern nicht bereit oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Aus dem Gesetzeswortlaut ergeben sich diesbezüglich keinerlei Einschränkungen, und bei den in § 1666 Abs. 3 BGB genannten Maßnahmen handelt es sich lediglich um eine beispielhafte Aufzählung, welche keineswegs abschließend ist (Thormeyer in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 1666 BGB, Rn. 11).

Es kommen insbesondere nicht nur Eingriffe in das Sorgerecht in Betracht, sondern auch Maßnahmen gegen Dritte. Die Vorschrift des § 1666 Abs. 4 BGB bietet dem Familiengericht eine Eingriffsmöglichkeit auch gegenüber Dritten, wenn aufgrund der Einwirkung dieses Dritten eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, die durch die Eltern nicht abgewendet werden kann, wobei bei der Wahl des Mittels stets der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten ist (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 24. März 2016, 9 UF 132/15, juris, Rn. 17). Dabei besteht möglicherweise auch eine Pflicht des Staates, einem Gefährdungspotential aus dem gesellschaftlichen Raum entgegenzuwirken (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666, Rn. 4a).

1.    Begriff des „Dritten“

„Dritter“ im Sinne dieser Vorschrift ist jeder Nichtelternteil bzw. jede nichtsorgeberechtigte Person (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666, Rn. 237; vgl. auch OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 2.4.2019, 1 UF 247/17, NJW& 2019, 2865, Rn. 15; Johannsen/Henrich/Althammer/Jokisch BGB § 1666, Rn. 124; Kaiser/Schnitzler/Schilling/Sanders, BGB, § 1666, Rn. 23).

Der klassische Fall einer familiengerichtlichen Maßnahme gegen einen Dritten gemäß § 1666 Abs. 4 BGB ist eine Wohnungswegweisung oder ein Kontaktverbot bezüglich einer sexuell übergriffigen Person (vgl. Thormeyer in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 1666 BGB. Rn. 101). Es ist aber anerkannt, dass „Dritter“ im Sinne von § 1666 Abs. 4 BGB auch die Betreiberin eines Wohnheims oder sogar eine psychiatrische Klinik mit einer geschlossenen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie – und damit Aufgaben der öffentlichen Hand wahrnehmend – sein kann (vgl. Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666, Rn. 237; AG Wedding, Beschluss vom 17.07.1992, 50 X 67/92; AG Kassel, DAVorm 1996, 411; Johannsen/Henrich/Althammer/Jokisch BGB § 1666 Rn. 124; MüKoBGB/Lugani, 8. Aufl. 2020, BGB § 1666 Rn. 214, 215). Weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur aus der „Zeit vor Corona“ finden sich Hinweise darauf, dass die eine Schule leitende Person anders zu behandeln wäre. Nach der Konzeption des § 1666 BGB ist allein entscheidend, dass es sich um eine Maßnahme handelt, die zur Abwendung der Gefahr unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist. Dabei ist anhand der Rechtsprechung auch festzustellen, dass solche Maßnahmen bezüglich Dritter für diese teilweise weitreichende Folgen haben, wobei die familiengerichtlichen Maßnahmen auch in bestehende Miet- und Arbeitsverhältnisse eingreifen können (vgl. AG Berlin-Tiergarten, Streit 1992, 89, 90 f: Bei Verdacht sexuellen Missbrauchs durch Hausbewohner nicht Entfernung der Kinder [so Jugendamt], sondern „go-order“ gegen mutmaßlichen Täter; ähnlich AG Berlin-Wedding WuM 1992, 470 f: gewalttätiger Hausmeister ist vom Dienst zu suspendieren und von Wohnanlage fernzuhalten; OLG Köln KindPrax 1999, 95 f: Verbot, das Stadtgebiet von Kerpen zu betreten, OLG Zweibrücken Beschluss vom 05.11.1993 – 3 W 165/93, NJW 1994, 1741: Verbot in der Nachbarschaft zu wohnen).

2.    Keine Beschränkung auf den privaten Bereich

Die beiden Entscheidungen aus Weimar und Weilheim und ihre Gegenreaktionen geben jedoch Anlass zu der Frage, ob eine teleologische Reduktion der Norm dahingehend angezeigt ist, dass das Familiengericht keine Maßnahmen in Bezug auf eine Kindeswohlgefährdung gegen eine Person ergreifen darf, die in staatlicher Funktion handelt. Allein diese Fragestellung ist frappierend, denn welche staatliche Stelle würde das Wohl von Kindern gefährden? Der Staat darf Kinder nicht nur genauso wenig schädigen wie eine natürliche Person, sondern er ist aufgrund der Tatsache, dass Kinder sich noch nicht selbst schützen können aber dennoch Grundrechtsträger sind, wie oben aufgezeigt unter Beachtung des Erziehungsvorrangs der Eltern umfassend zum Schutz der Kinder berufen. Wie kann sich dann überhaupt die Frage stellen, ob eine staatliche Maßnahme das Kindeswohl gefährdet und ob das Familiengericht dieser Gefährdung dann nach den allgemeinen Grundsätzen begegnen muss?

Hier ist zunächst noch einmal darauf zu verweisen, dass es auf die tatsächlichen Feststellungen des Einzelfalls ankommt, zu denen hier keine Bewertung abgegeben werden soll (s. o.). Die aufgeworfene Frage der Grenzen familiengerichtlicher Maßnahmen kann sich jedoch auch unabhängig von Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 stellen.

Dass das Familiengericht Maßnahmen nach § 1666 BGB grundsätzlich auch gegenüber einer Person ergreifen kann, welche eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, ergibt sich bereits aus § 1837 BGB. Gemäß § 1837 Abs. 4 BGB gilt § 1666 BGB im Verhältnis zum Vormund entsprechend. Eine Privilegierung des in öffentlicher Funktion handelnden Vormundes ist in § 1837 Abs. 3 BGB lediglich hinsichtlich der Festsetzung eines Zwangsgeldes vorgesehen, indem es heißt: „Das Familiengericht kann den Vormund und den Gegenvormund zur Befolgung seiner Anordnungen durch Festsetzung von Zwangsgeld anhalten. Gegen das Jugendamt oder einen Verein wird kein Zwangsgeld festgesetzt.“ Grund für diese Privilegierung ist ausweislich der Gesetzesbegründung, dass die Festsetzung eines Zwangsgeldes „mit der Stellung auch des Behördenbetreuers, der die Betreuung in Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe ausübt, nicht zu vereinbaren“ wäre (BT-Drucks 11/4528). Ob man den Rechtsgedanken dieser Privilegierung in der Vollstreckung familiengerichtlicher Maßnahmen über den Bereich der Amtsvormundschaften hinaus auch auf die Durchsetzung von Maßnahmen nach § 1666 BGB gegen andere eine „öffentliche Aufgabe“ ausführende Personen übertragen könnte oder müsste, erscheint bislang ungeklärt; es dürfte insoweit aber an einer planwidrigen Regelungslücke fehlen. Zudem beruht die Privilegierung des Amtsvormundes auch auf Überlegungen zu den organisatorischen Gegebenheiten innerhalb der Anstellungskörperschaft des Vormunds (Staudinger/Veit (2014) BGB § 1837, Rn. 60, BT-Drucks 17/3617, 8), welche sich nicht ohne Weiteres übertragen lassen. Jedenfalls ist von dieser Privilegierung ausdrücklich nur die Vollstreckung einer familiengerichtlichen Maßnahme betroffen und nicht die familiengerichtliche Anordnung an sich.

Nicht zu verwechseln3So aber VG Weimar, Beschluss vom 20.04.21, 8 E 416/21 We, juris. ist das Ergreifen einer familiengerichtlichen Maßnahme nach § 1666 BGB gegen einen das Kindeswohl gefährdenden Dritten, welcher in Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe handelt, mit dem Verhältnis zwischen Familiengericht und Jugendamt im Rahmen der „Verantwortungsgemeinschaft“ und der Frage der Entscheidungskompetenz bezüglich der Erbringung öffentlicher Hilfen. Diese Verschränkung familiengerichtlicher und sozialrechtlicher Schutzansätze unter dem Dach des „staatlichen Wächteramts“ ist organisations- und kompetenzrechtlich vom Gesetzgeber nicht klar strukturiert“ (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666a. Rn. 13). Es wird überwiegend davon ausgegangen, dass das Familiengericht gegenüber dem Jugendamt keine Kompetenz zur Anordnung der Durchführung einer bestimmten Hilfsmaßnahme hat. Dies hat seinen Grund jedoch im Entscheidungsprimat des Jugendamtes bezüglich der Frage, ob und welche öffentlichen Hilfen in einem Gefährdungsfall zur Gefahrabwendung geeignet sind (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666a, Rn. 13). Das Jugendamt ist dabei für den Schutz des Kindes tätig und gerade nicht als „Dritter“, der das Kindeswohl gefährdet. Aufgrund seiner Schutzfunktion und seiner besonderen fachlichen Kompetenz ist das Jugendamt in Verfahren nach § 1666 BGB gemäß § 162 II FamFG stets zu beteiligen. Dies ist eine grundlegend andere Stellung gegenüber dem Familiengericht, als wenn eine öffentliche Stelle als „Dritter“ am Verfahren beteiligt wird. Aus der nach h. M. fehlenden Kompetenz des Familiengerichts zu Anordnungen gegenüber dem Jugendamt im Rahmen der Verantwortungsgemeinschaft kann daher nicht auf eine fehlende Kompetenz des Familiengerichts zur Anordnung gegenüber einem in öffentlicher Funktion tätigen Dritten geschlossen werden.

Für eine solche teleologische Reduktion des § 1666 BGB auf nicht-staatliche Adressaten der Maßnahmen könnte sprechen, dass Sinn und Zweck der Vorschrift die Ausfüllung des staatlichen Wächteramtes ist und dass der Staat selbst nicht erst über den Umweg des staatlichen Wächteramtes dazu verpflichtet ist, Kinder nicht zu gefährden, sondern dass jegliche staatliche Stelle aufgrund der Gesetzesbindung bei ihrem Handeln ohnehin sicherstellen muss, Kinder nicht zu schädigen. Eine solche Sichtweise würde jedoch den Grundsatz der Gewaltenteilung verletzen; in diesem Rahmen ist es essenzieller Bestandteil unserer verfassungsmäßigen Ordnung, dass die drei Gewalten sich gegenseitig kontrollieren. Würde man die Rechtsmäßigkeit des Handelns einer staatlichen Stelle immer als gegeben voraussetzen, bräuchte es den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht.

Es stellt sich daher die Frage, ob für die Abwendung einer Kindeswohlgefährdung durch eine staatliche Stelle der Verwaltungsrechtsweg eine Art Sperrwirkung für das Tätigwerden des Familiengerichts entfaltet, oder ob daneben auch familiengerichtliche Maßnahmen ergriffen werden können. Zu beachten ist dabei, dass diese beiden Bereiche des Verwaltungs- und Familienrechts grundsätzlich nebeneinanderstehen, sich aber bezüglich mancher Lebenssachverhalte überschneiden, etwa bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII oder bei der Gewährung öffentlicher Hilfen. Ein spezifisch die Gefahr für ein Kind abwendender Rechtsakt ist dabei nur im Familienrecht über § 1666 BGB verankert, insofern ist ein Vorgehen nach § 1666 BGB spezieller gegenüber der allgemeinen verwaltungsrechtlichen Prüfung des staatlichen Handelns. Das familienrechtliche Verfahren nach § 1666 BGB ist in mehrfacher Hinsicht durch kinder- und kinderschutzbezogene Besonderheiten geprägt, wozu auch der Beschleunigungsgrundsatz gehört. Zudem sind die Verfahren vor den Verwaltungsgerichten antrags- bzw. klageabhängig ausgestaltet, während der Gesetzgeber bei der Regelung des § 1666 BGB bewusst auf ein solches Erfordernis verzichtet hat. Letzteres ergibt sich aus der Funktion des staatlichen Wächteramtes, dessen Ausübung nicht von der Initiative Privater oder von Behörden abhängen kann (Staudinger/Coester (2020) BGB § 1666, Rn. 261). Eine generelle Sperrwirkung für ein Tätigwerden des Familiengerichtes allein aufgrund der Tatsache, dass es den von einem Lebenssachverhalt Betroffenen möglich wäre, die Verwaltungsgerichte damit zu befassen, scheidet daher aus.

Gegen eine Beschränkung der Adressaten familiengerichtlicher Maßnahmen auf den Kreis der Privatpersonen spricht schließlich auch der Umstand, dass § 1666 BGB inzwischen auch der Umsetzung der seit dem 15.07.2010 vorbehaltslos geltenden UN-Kinderkonvention gilt. Darin ist u. a. bestimmt:

„Artikel 3 [Garantie des Kindeswohls]

(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

(2) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen.“

Dies unterstreicht gerade die Bindung der öffentlichen Stellen an die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls und die Verpflichtung der Vertragsstaaten, diese sicherstellenden Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Es dürfte daher auch im Wege der völkerrechtskonformen Auslegung davon auszugehen sein, dass „Dritter“ auch eine Person sein kann, die in Ausübung einer staatlichen Funktion handelt. Die Zuständigkeit der Familiengerichte zum Schutze des Kindeswohls drängt sich angesichts ihrer hierin liegenden Kernkompetenz geradezu auf. Verwaltungsgerichte haben mit derartigen Fragestellungen kaum zu tun.

3.    Inzidente Gesetzesprüfung

Eine Grenze für familiengerichtliche Auflagen ist der Rahmen der geltenden Gesetze. Es widerspräche dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, wenn das Familiengericht den Kindeseltern oder einem Dritten ein Verhalten auferlegen würde, das mit einem geltenden Gesetz nicht in Einklang steht. Stellt das Familiengericht eine Kindeswohlgefährdung fest und würde die zur Abwendung dieser Gefahr erforderliche Maßnahme gegen ein geltendes Gesetz verstoßen, so kommt es für das Familiengericht in seinem Verfahren nach § 1666 BGB auf die Gültigkeit des Gesetzes an. Hält das Familiengericht das betreffende Gesetz für verfassungswidrig, hat es im Falle eines förmlichen Gesetzes das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Verfassungsgerichts einzuholen, im Falle eines nicht-förmlichen Gesetzes hat es die Verfassungsmäßigkeit selbst zu prüfen und die Regelung ggf. zu verwerfen (Art. 100 Abs. 1 GG, BVerfG, Urteil vom 20. 3. 1952, 1 BvL 12/51, NJW 1952, 497). Letzteres ist in den beiden Entscheidungen aus Weimar und Weilheim geschehen.

Es ist unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit misslich, wenn die Verwaltungsgerichte und die Familiengerichte bezüglich der Prüfung der Verfassungswidrigkeit einer Norm zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Für den Bürger ist es kaum nachvollziehbar, wie eine Regelung einerseits der Prüfung im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren standhält, andererseits aber wegen Kindeswohlgefährdung im Einzelfall keine Anwendung finden soll. Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 GG um ein objektives Verfahren zum Schutz der Verfassung handelt, welches die ausschließliche Anwendung verfassungsgemäßer Normen sicherstellen soll (BeckOK GG/Morgenthaler GG Art. 100 Rn. 2) und dass diese Kontrollfunktion nur für formelle Gesetze dem Verfassungsgericht überlassen und im Übrigen in die Hände der jeweils befassten Fachgerichte gelegt ist. Eine gewisse Uneinheitlichkeit und eine gewisse Gefahr der Zersplitterung ist damit bewusst in Kauf genommen worden (vgl. BVerfG, Urteil vom 20.3.1952 – 1 BvL 12/51, NJW 1952, 497), ohne dass dies seither zu nennenswerten Problemen geführt hätte.

Der aktuelle Dissens zwischen dem Verwaltungsgericht und dem Familiengericht in Weimar ist auch kein Anlass zu grundlegender rechtsstaatlicher Sorge, da diese Abweichungen zum Teil den Besonderheiten der Ausgestaltung des jeweiligen Eilrechtsschutzes geschuldet sind und auf unterschiedlichen Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht beruhen.

VI.          Kosten und Verfahrenswert

Für den Fall, dass das Familiengericht einer Anregung zur Einleitung eines Verfahrens wegen Gefährdung des Kindeswohls nicht folgt, gibt es keine spezielle Kostenvorschrift. Dies liegt daran, dass bei Nichteinleitung des Verfahrens auch keine Gerichtskosten anfallen (Schneider/Volpert/Fölsch, FamGKG Nr. 1313, Rn. 11). Ordnet das Gericht die Mitteilung des Dritten als Mitteilung ein, die zu Maßnahmen keinen Anlass gibt, ist sie auch statistisch nicht als Verfahren zu erfassen, und es können keine Kosten anfallen. Leitet das Gericht hingegen ein Verfahren ein, dann fallen die Kosten mit dem ersten Tätigwerden des Gerichtes an. Die Einleitung des Verfahrens impliziert, dass der jeweils zuständige Richter die Einleitungsschwelle überschritten sieht (s. o.). In diesem Fall prüft er im weiteren Verlauf, ob auch die Eingriffsvoraussetzungen des § 1666 BGB vorliegen und trifft schließlich mit der Endentscheidung eine Kostenentscheidung nach § 81 FamFG. Außerdem wird bei Beendigung des Verfahrens der Verfahrenswert festgesetzt, § 45 FamGKG. Dieser Wert kann in Amtsverfahren denklogisch nur auf dem Verfahrensgegenstand beruhen, bezüglich dessen das Amtsverfahren eingeleitet wurde.

Wie sehr eine aufgrund der Entscheidungen aus Weimar und Weilheim abgeleitete tatsächliche oder befürchtete „Antragsflut“ andere Familiengerichte irritiert hat, zeigt der Beschluss des Amtsgerichts Leipzig, 335 F 1187/21, vom 15.04.2021: Hier wurde zwar das Amtsverfahren ausdrücklich nicht wegen der schätzungsweise 350 Kinder, die von der Anregung betroffen sein könnten, eingeleitet, dennoch wurde aber bei der Verfahrenswertberechnung die Anzahl der Kinder mit 350 zugrunde gelegt, und dies im Übrigen auch noch entgegen § 45 Abs. 2 FamGKG und ohne dass besondere Umstände nach § 45 Abs. 3 FamGKG begründet worden wären.

Das Gericht hat den Verfahrenswert sodann auf 1.400.000 € (sic!) festgelegt. Eine andere Erklärung, als dass hierdurch etwaige weitere Anreger „abgeschreckt“ werden sollten, ist jedenfalls prima facie nicht erkennbar. Ob dieses Vorgehen rechtlich vertretbar ist, erscheint zweifelhaft. Ob die zugrundeliegende Anregung tatsächlich Anlass bot, die Erziehungseignung der Kindesmutter zu überprüfen, ist ebenso wie die Feststellungen der Amtsgerichte Weimar und Weilheim eine Frage, die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls in richterlicher Unabhängigkeit zu entscheiden ist, so dass auch insoweit hier eine Bewertung unterbleibt. Das „abschreckende“ Vorgehen in kostenrechtlicher Hinsicht wirft jedoch Fragen auf.

Bei der bei Verfahrensbeendigung zu treffenden Kostenentscheidung nach § 81 FamFG ist zu berücksichtigen, dass es dem Grundgedanken des Kinderschutzes und der gesetzlichen Ausgestaltung des § 1666er-Verfahrens als Amtsverfahren nach § 24 FamFG widersprechen würde, wenn für eine Person, die aus echter Sorge um das Kind heraus dem Familiengericht einen Sachverhalt zur Prüfung der Verfahrenseinleitung unterbreitet, ein Kostenrisiko besteht. Die Auferlegung von Kosten auf die anregende Person, welche ein grobes Verschulden voraussetzt, kann daher nur in seltenen Ausnahmefällen zum Tragen kommen. Ein grobes Verschulden des Anregenden dürfte insbesondere dann nicht vorliegen, wenn das Gericht das Verfahren zwar einleitet, dann aber ohne weitere Ermittlungen zu dem Ergebnis kommt, dass keine Maßnahmen zu ergreifen sind; denn wenn die „Erfolglosigkeit“ einer solchen Anregung bereits unmittelbar nach Verfahrenseinleitung so offenkundig ist, dass man dem Anregenden „grobes Verschulden“ vorhalten könnte, dann ist sie auch so offenkundig, dass das Gericht bereits die Einleitungsvoraussetzungen nicht bejahen darf. Der Grundgedanke der aus Kinderschutzgründen kostenfreien Verfahrensführung kommt in der Praxis häufig dadurch zum Tragen, dass von der Erhebung der Gerichtskosten in der Regel abgesehen wird, wenn das Verfahren „zum Wohle und im Interesse des Kindes“ geführt wurde.

VII.        Fazit

Beschäftigt man sich eingehend mit der gesetzlichen Konzeption des familiengerichtlichen Verfahrens nach § 1666 BGB, §§ 24, 157 FamFG, so ist nachvollziehbar, auf welcher Grundlage die beiden Entscheidungen aus Weimar und Weilheim ergingen. Offenbar waren die zuständigen Richter aufgrund der zum Zeitpunkt des Erlasses vorliegenden Feststellungen davon überzeugt, dass Wahrscheinlichkeit und zeitliche Nähe eines Schadenseintritts derart groß waren, dass sie sich nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sahen, eine diesbezügliche einstweilige Anordnung zu erlassen. Hierzu waren sie in Ausübung des staatlichen Wächteramtes auch befugt. So überraschend und ungewöhnlich die beiden Entscheidungen im Ergebnis sein mögen und so wenig eine solche Konstellation bislang in Rechtsprechung und Literatur in den Blick genommen wurde – es liegt kein Fehler im Bereich der Annahme des Rechtsweges, der Zuständigkeit als Familiengericht und der familienrechtlichen Methodik vor.

Bedenklich stimmt jedoch die Art und Weise der kontroversen Rezeption der beiden Entscheidungen und der darin enthaltenen Sachverständigenfeststellungen, welche letztlich nur durch die sehr dynamische und von großer Unsicherheit geprägte Situation der Corona-Pandemie erklärlich ist. Eine besonnene juristische Prüfung und Diskussion der Entscheidungen aus Weimar und Weilheim gerade in Bezug auf den Rechtsweg und die Zuständigkeit der Familiengerichte ist – soweit ersichtlich – bislang nicht erfolgt. Hierzu möchte der vorstehende Aufsatz einen Beitrag leisten. Ebenso erscheint es selbstverständlich, die den Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverständigengutachten zunächst zu lesen und erst dann darüber in der Sache zu diskutieren.

Es bleibt zu hoffen, dass es den Gerichten gelingen wird, sich trotz dieser Schwierigkeiten mit der angemessenen Gelassenheit, Unvoreingenommenheit, Unaufgeregtheit aber auch Intensität der individuellen Sachverhalte anzunehmen, mit denen sie befasst werden.

Unabhängig davon verdient jede in richterlicher Unabhängigkeit getroffene ernsthafte Entscheidung Respekt. Derart fundierte Entscheidungen wie die des Familiengerichts Weimar als „ausbrechenden Rechtsakt“ zu bezeichnen, entbehrt aus familienrechtlicher Sicht jeder Grundlage.

Endnoten

  • 1
    Amtsgericht Weimar, Beschluss vom 08.04.2021, 9 F 148/21, juris; Amtsgericht Weilheim, Beschluss vom 13.04.2021, 2 F 192/21, juris.
  • 2
    Siehe VGH München, Beschluss vom 16.04.2021, 10 CS 21.1113, juris, Amtsgericht Leipzig, Beschluss vom 15.04.2021, 335 F 1187/21.
  • 3
    So aber VG Weimar, Beschluss vom 20.04.21, 8 E 416/21 We, juris.

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  1. […] wird auf den Aufsatz von KRiStA „Corona-Maßnahmen vor dem Familiengericht – eine ungewöhnliche Entwicklung“, der […]

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